Abgenabelt – wenn Kinder ausziehen

„Ein katholischer Priester, ein protestantischer Pfarrer und ein jüdischer Rabbi diskutieren die Frage, wann menschliches Leben beginne. Der katholische Priester zögert keine Sekunde und sagt: „Menschliches Leben beginnt mit der Zeugung!“ Sein protestantischer Kollge überlegt einen Augenblick und kommt zu dem Schluss: „Menschliches Leben beginnt erst mit der Geburt!“ Beide schauen nun den Rabbi an, der lange überlegt, bevor er antwortet: „Menschliches Leben beginnt, wenn die Kinder aus dem Haus sind!“

Es ist ein Gesetz der Natur, dass die Brut das Nest verlässt, wenn sie flügge ist. Bei machen Arten helfen die Eltern ein wenig nach: Beim „Lummensprung“ zum Beispiel, bei dem die Eltern die Jungen manchmal etwas schubsen, damit diese in das meist tief unter dem Felsennest liegende tosende Meer springen. Sowas ist bei Menschenkindern verpönt, zumindest bei Müttern. Väter sind da – zumindest rein äußerlich – etwas „cooler“.

Was bei den Lummen ein wenig herzlos aussieht, ist auch bei Menschen überlebensnotwendig. Denn der Abnabelungsprozess fällt Kindern unterschiedlich schwer: Die einen – meist Mädchen – können gar nicht früh genug das Weite suchen, die anderen – meist Jungen – verbleiben  gerne noch ein paar Jahre länger im „Hotel Mama“.

Der Abnabelungsprozess fällt auch Eltern unterschiedlich schwer. Zwar handelt es sich um ein Naturgesetz, aber eines, mit dem die meisten Eltern so nicht gerechnet haben. Doch auch hier sind die Verarbeitungsmodelle unterschiedlich: Mama kauft noch schnell eine kuschelige Daunendecke, Papa denkt bereits darüber nach, wie man das Kinderzimmer nun am besten nutzen kann. Neu streichen? Schlafsofa? Gästezimmer?

War es nicht erst gestern, als wir das Kind an die Hand nahmen, wenn wir mit ihm über die Straße gingen, ihm stundenlang vorlasen oder beim Schwimmenlernen Mut machten? Danach kam dann die Phase, wo die Eltern am gedeckten Tisch auf ihre Kinder warteten, doch diese lieber im Internet surften, chatteten, twitterten. In den Kinderzimmern waren die Eltern nun auch nicht mehr erwünscht. Und wenn überhaupt, dann kurz und bitte vorher anklopfen!

Einst waren wir für unsere Kinder die Allergrößten, jetzt ernten wir nur noch Unverständnis: „Aber Papa!“ Je inniger die Zeit vor der Pubertät, desto grausamer die Zeit danach. Schnell entwickeln sich Persönlichkeiten, die im in manchen Punkten in deutlichem Kontrast zu den Alten stehen: Unterschiedliche Zeiten, Rhythmen, Abläufe, Ordnungsvorstellungen, Meinungen, Gewohnheiten und Ansichten. Das Zusammenleben wird manchmal auf eine harte Probe gestellt.

Doch wenn sie dann wie der Phönix aus der Asche der Pubertät entstiegen sind und aus ihnen wieder sozial verträgliche Menschen geworden sind, sagen sie alsbald „tschüss!“. Das Kind kommt danach nur noch zu Besuch: Zum Geburtstag, zu Weihnachten oder vielleicht in den Semesterferien – oder wenn es Geld für eine neue Waschmaschine braucht. Wenn dann die Kinder in die Jahre kommen, hätten manche Eltern – besonders die Mütter – gerne Enkelkinder. Aber diesen Gefallen tun Kinder ihren Eltern auch immer seltener.

Eltern brauchen insgesamt wohl das, was Psychologen „Ambivalenztoleranz“ nennen: Jene Gelassenheit nämlich, wenn sich Kinder völlig anders entwickeln als die Eltern sich das vorstellen. Doch waren wir es nicht selber, die einst den Sponti-Spruch kreierten: „Wir sind die, vor denen unsere Eltern uns immer gewarnt haben“?

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