Wenn es alle tun … Tattoos

Einst war es Seeräubern, Sekten oder anderen zweifelhaften Randgruppen vorbehalten, heute ist es nahezu hoffähig: Es ist die Rede vom Ohrring, dem Nasenstecker, dem Piercing – und inzwischen dem sogenannte „Tattoo“, vulgo Tätowierung, womit so mancher Mensch offenbar in Nachahmung von B- und C-Promis versucht, auf sich aufmerksam zu machen.

Acht bis zehn Millionen Deutsche haben sich inzwischen tätowieren lassen, gar jeder Zweite zwischen 15 und 25 Jahren – ein Massenphänomen also. Und deshalb gewöhnt sich die Gesellschaft nach und nach daran – denn mit der Zeit wird alles salonfähig.

So erntet ein Mann heute kaum noch einen Achtungserfolg durch seinen Ohrstecker. Auch der Nasenstecker scheint auf der Zielgeraden angekommen zu sein. Noch haftet so manchem Piercing in Zunge oder Augenbraue ein leichter Grusel an und werden deshalb ebenso wie Tattoos von manchen Chefs nur unsichtbar unter der Bekleidung geduldet.

So mancher mag vermutlich selber glauben, er würde allein durch die Applikation von Accessoires oder bunten Bildern auf seiner Haut usw. ein anderer Mensch. Ein weitverbreiteter Irrtum. Individualität entsteht eben nicht durch Äußeres. Das Äußere ist immer nur Ausdruck des Inneren. Vielleicht will uns mancher nur sagen: „Seht her, ich protestiere und benutze dazu meinen Körper als Manifest!“ Wogegen der Mensch genau ist, das weiß er vermutlich nicht einmal selber. Mit Sicherheit ist die Tat nicht vernunftgelenkt, sondern eher Resultat eines dumpfes Gefühls: Cool möchte man wirken, risikobereit, exotisch, verrucht, ein bisschen proll oder so.

Doch wenn es alle tun, wo ist dann das Besondere? Wenn jeder Zehnte oder gar Zweite ein Tattoo hat und die Rose am Oberarm oder das Arschgeweih nicht mehr ausreicht, wird der ganze Körper zur Litfasssäule. What next?

Erich Kästner hat vor etwa 80 Jahren abschließende – und möglicherweise auch zukunftsweisende – Worte für solch Tun gefunden:

Sogenannte Klassefrauen

Sind sie nicht pfuiteuflisch anzuschauen?
Plötzlich färben sich die Klassefrauen,
weil es Mode ist, die Nägel rot!
Wenn es Mode wird, sie abzukauen,
oder mit dem Hammer blau zu hauen,
tuns sie’s auch und freuen sich halbtot.

Wenn es Mode wird, die Brust zu färben
oder – falls man die nicht hat – den Bauch…
wenn es Mode wird, als Kind zu sterben
oder sich die Hände gelb zu gerben
bis sie Handschuh’n ähneln, tun sie’s auch.

Wenn es Mode wird, sich schwarz zu schmieren,
wenn verrückte Gänse in Paris
sich die Haut wie Chinakrepp plissieren,
wenn es Mode wird, auf allen Vieren
durch die Stadt zu kriechen, machen sie’s.

Wenn es gälte, Volapük zu lernen,
und die Nasenlöcher zuzunähn
und die Schädeldecke zu entfernen
und das Bein zu heben an Laternen
morgen könnten wir’s bei ihnen seh’n.

Denn sie fliegen wie mit Engelsflügeln
immer auf den ersten besten Mist.
Selbst das Schienbein würden sie sich bügeln!
Und sie sind auf keine Art zu zügeln,
wenn sie hören, daß was Mode ist.

Wenn’s doch Mode würde, zu verblöden!
Denn in dieser Hinsicht sind sie groß.
Wenn’s doch Mode würde, diesen Kröten
jede Öffnung einzeln zuzulöten,
denn dann wären wir sie endlich los.

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