Lebens(t)raum Auto

Mein Bordcomputer zeigt es an: Auch in einem Jahr habe ich wieder gut 500 Stunden hinter dem Lenkrad meines Autos verbracht. Das sind umgerechnet (in Arbeitszeit bei einer 40-Stunden-Woche) drei Arbeitnehmermonate.
   
Viel Lebenszeit. Ist das nicht vermeidbar? Leider nicht. Arbeit ist da, wo unsere Kunden sind. Zugegeben, von Stadt zu Stadt sind Bahn und Flugzeug klar im Vorteil gegenüber dem Auto. Sobald es aber in die Provinz geht, man viel Gepäck oder mehrere Reiseetappen hat, ist das Auto erste Wahl.
   
Neulich stand in der Zeitung, dass der ungebrochene Drang zum Automobil dem Freiheitsbedürfnis der Männer entspräche. Zehn Minuten Verspätung mit der Bahn würde
man(n) nicht tolerieren, wohl aber stundenlange Staus. Der Vergleich hinkt, weil nicht die zehn Minuten ICE-Verspätung das Problem sind, sondern die Tatsache, dass man danach seinen Anschlusszug nicht erreicht und ggf. erst viele Stunden später ans Ziel kommt. Und eine „dynamische Fahrtroute“, bei der ein Stau umfahren wird, ist bei der Bahn nur bedingt möglich.
   
Zudem kann ich die vermeintlich unproduktive Zeit im Auto auch ein wenig durch die Möglichkeit des ungestörten Telefonierens aufwerten. Natürlich kann ich das auch in der Bahn. Aber da hört ja jeder mit, was und mit wem ich telefoniere – und schlimmer noch, ich muss mir den unendlichen Quark meiner wichtigtuerischen Zeitgenossen anhören.
   
Und ich kann im Auto Fachbücher und Literatur als Hörbuch konsumieren – und zwar ohne Ohrenstöpsel.
   
Außerdem ist das mein Auto, mein Sitz, meine Sitzposition, meine Senderwahl, meine Innenraumtemperatur, meine Sitztemperatur, mein Tempo. Ist das nun Freiheit oder eher Indiviualität?
 
Und wenn ich keine Lust mehr habe, halte ich einfach an. Machen Sie das mal im ICE!

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5 Antworten zu Lebens(t)raum Auto

  1. Jochen Voigt sagt:

    Das mag ja alles sein, ändert aber nichts daran, dass die automobile Gesellschaft untergehen wird. Der Ressourcenverbrauch an Öl und Rohstoffen ist einfach zu hoch, denn das System Automobil ist lächerlich ineffizient und das ist auch immer noch schlimmer geworden, da das Leergewicht der Fahrzeuge ständig erhöht wurde. So viele Soldaten können wir gar nicht in alle Welt entsenden, um die benötigten Rohstoffe zusammenzurauben. Die Umweltschäden durch Ausstoß von Schadstoffen, CO2, Aerosole, Feinstaub und anderen Giften sind viel zu hoch, und die Lärmbelastung in vielen Orte grausam. Die Verkehrsopferzahlen sind viel zu hoch; nur durch Gewöhnung und Propaganda wie dieser Blogbeitrag wird die Akzeptanz aufrechterhalten. Wir würden sonst keine Technik tolerieren, die einen solchen Blutzoll fordert. Der Autoverkehr ist auch viel zu teuer und wird massiv aus Steuermitteln subventioniert, die von nicht automobilen Menschen mit aufgebracht werden müssen. Der Autoverkehr verbraucht auch zu viel Fläche und stört die anderen Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer in unverhältnismäßig stark.
    Das Auto ist ein solch unsinniges System, dass auch neue Hybrid- und Elektrotechniken es nicht vorm Untergang bewahren werden.

  2. Karl-Heinz Heidtmann sagt:

    Ich glaube, Du hast in der Kritik Recht.

    Doch ohne diese (Auto-) Mobilität würde ohne Wirtschaftssystem vermutlich zusammenkrachen – ganz anders als Marx / Engels das erwartet hätten.

  3. Peer Wichary sagt:

    Ein Messer ist einfach nur ein Messer; man kann mit ihm Biotomaten (und natürlich auch andere) schneiden, aber auch Menschen umbringen. Die Bedeutung ergibt sich erst durch das Anwenden.

    Mit dem Auto verhält es sich genauso: Es ist weder gut noch schlecht, es ist einfach nur ein Auto. Die Wertung gibt erst der Mensch hinein, denn er ist es ja schließlich, der es bequemer und sicherer haben will (mit der Folge steigenden Leergewichts); er ist es auch, der mitunter fährt wie der Henker persönlich (Unfallopfer); er ist es, der ein Vielfaches des nur ein paar tausend Euro betragenden Material- und Lohnwertes bereit ist auszugeben, nur weil es ihm individuelle Mobilität ermöglicht (wohlwissend, daß er die gescheiterten Fusionen und Managerabfindungen in der Automobilbranche mit dem Autokauf mitfinanziert). Und er ist es auch, der durch Lobbyarbeit auf die Entwicklung Einfluß nimmt (und sei es, daß er sie vermeidet); er ist es auch, der mit Steuern von über 2/3 des Spritpreises den Staat und dessen Projekte mitfinanziert (worunter z.B. auch soziale Einrichtungen fallen). Ebenfalls ist er es, der lieber einen aus Steuermitteln subventionierten Arbeitsplatz genießt, als sich umzuorientieren, denn dazu bräuchte es die Bereitschaft, Eigenverantwortung zu übernehmen.

    Im übrigen bezweifle ich persönlich die Energiebilanz einer Bahnfahrt ganz erheblich, denn wem nützt es beispielsweise, wenn der Schadstoffausstoß zwar geringer als beim Auto ausfällt, die Züge jedoch fast leer durch die Gegend fahren?

    Autos wird es noch lange geben – geben müssen, weil dem Menschen geeignete Alternativen fehlen, um sein Mobilitätsbedürfnis zu befriedigen. Die Automobilbranche ist clever genug, den Produktlebenszyklus ‚Auto‘ durch dosierte und geeignete Innovationen aufrecht zu erhalten.

    Es liegt am Menschen, nicht am Auto.

  4. Karl-Heinz Heidtmann sagt:

    Lieber Herr Wichary,

    es sind solch differenzierte Beiträge, die mir als Autor Mut machen, auch weiterhin über den Zeitgeist zu schreiben.

  5. Jerome sagt:

    So wie die Bahn seine Kunden malträtiert, ist es kaum ein Wunder, wenn Menschen lieber in ihren Autos unterwegs sind. Ich kann sogar die Logik nachvollziehen, dass man im eigenen Auto lenkt, statt sich auf fremde Mächte im Zug einlassen zu müssen. Das wäre ja nicht schlimm, wenn die Bahn nicht ständig zu spät käme, sprich wenn man wenigstens abschätzen könnte, was passieren wird. Das sollte drin sein, eigentlich …

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