Erstaunliche Reisende

Am Nebentisch der Wanderhütte „Weinbiet“ sitzt eine bunt gemischte Gruppe aus Jung und Alt. Es geht im Gespräch offenbar darum, ein Reiseziel für eine der anwesenden Damen im kommenden August zu finden. Sie ist schier verzweifelt, dass sie und ihr Mann sich noch für nichts entscheiden konnten.

„Wart Ihr denn schon mal in Algerien?“, fragt einer der Bengel am Tisch die Tante. „Ja, da waren wir 1978.“ – „Und in Russland?“ – „Ja, in den 80er Jahre mit der Transsib.“ – „Und in Thailand?“ – „Da waren wir im Jahre 2000.“ – „Oder nach Frankreich?“ – „Da kennen wir schon alles.“ – „Wie wär’s mit einer dänischen Insel?“ -„Drei Wochen lang? Nee, mein Mann der braucht jeden Tag Programm!“

„Wart Ihr schon in …?“ – „Tante Ingrid war schon überall!“, fällt eine andere Dame, möglicher Weise seine Mutter, dem Jungen ins Wort.

„Warum fahrt Ihr nicht einfach in Eure schöne Ferienwohnung auf Sylt?“ – „Nee, das geht nicht, die ist dann vermietet, da ist ja Hauptsaison!“

Die Welt ist groß und das Leben endlich – das bedeutet für manchen Zeitgenossen Stress. Wer weiß, wie lange das mit den billigen und ökologisch mehr als grenzwertigen Flügen noch gut geht?

Mit seinen Reisezielen erfährt der moderne Mensch offenbar – nicht wie einst – sich selbst und andere, sondern vor allem Prestige. Denn es reicht keinesfalls, irgendwo hinzufahren und sich wohlzufühlen. Nein, das Reiseziel muss etwas hermachen, getreu dem zeitgemäßen Motto: Mein Haus, mein Boot, meine Frau!

„Erstaunliche Reisende! Sagt, was habt ihr gesehen?“ (Charles Baudelaire)

Ggf. kann man schon vom Reiseort aus eine eMail mit Fotoanhang schicken, Lagune mit Palmen, damit die blassen Daheimgebliebenen vor Neid noch blasser werden. Neuerdings erreichen uns schon vor der Reise von Bekannten solche Aufnahmen des Reiseziels mit süffisanten Grüßen an die Daheimbleibenden (Originalzitat):

„Erst ein wenig hier, dann ein paar Tage dort und und dann hier. Bordkarten sind schon  gedruckt, Seats 1A + 1B – also direkt unter dem Piloten. Euch eine angenehme Zeit bei dem Schietwetter hier und liebe Grüße M.“

Es reicht eben nicht, sich selber zu freuen – man muss sich (ggf. teuer) auch den Neid der Anderen erkaufen, getreu dem Motto: „Mein Haus, mein Boot, meine Frau!“ Doch spätestens wenn man wieder zu Hause ist, kann man lässig über das Erlebte erzählen, denn schon seit Jahrhunderten ist bekannt, dass, wenn einer eine Reise tut …

Man könnte zum Beispiel berichten, dass man mit Delphinen schwimmen war (auch wenn dieses Erlebnis unverschämt kurz). Oder dass man in 3-Sterne-Restaurant teuer und übersichtlich gegessen hat (Alain Delon war auch da), am Kap gegolft hat (von Armut aber nix gesehen). Oder dass man mit vielen Tausend anderen ganz unökologisch (daheim kauft man aber gerne bio) in der Antarktis „gecruised“ ist (den Reiseveranstalter hat man aber verklagt angesichts der vielen lauten Kinder am Pool). Auch die Chinesische Mauer hat man bereits erfolgreich erklommen (aber die sanitären Anlagen waren eine Katastrophe). Und Phuket war auch ganz schön, wenn da bloß nicht die vielen Touris wären!

Ein Depp, wer im Lande bleibt, eine trübe Tasse, wer in der Pfalz wandert, ein Hinterwäldler, wer auf Rügen Rad fährt oder den Brocken erklimmt! Sag mir wohin Du reist – und ich sage Dir, wer und was Du bist! Die Fernreise als Statussymbol – seht her, das konnten wir uns leisten!

Dabei erzeugt jede Reise eine noch höhere Erwartungshaltung für die nächste. Der neue Kick muss dann noch größer sein. Und so schrammt der Reise-Junkie ständig an der nach oben offenen Reiseerlebnisskala entlang. Der moderne Mensch hat offenbar zunehmend solche Probleme. Der Globus ist für ihn entschieden zu klein geworden. Diese Sinnleere, die einen schon nach wenige Tagen daheim anfällt. Nicht zum Aushalten! Gottfried Benn muss diese Symptome bereits gekannt haben, als er in den 30er Jahren sein Gedicht „Reisen“ schrieb.

Wie wäre es mit einer Reise zu den Sternen, wie schon Frank Sinatra sang: „Fly me to the moon“ (auf Deutsch etwa: „Schieß mich doch auf den Mond!“)? Das wäre doch wirklich originell und erlösend zugleich – für alle! Wir wünschen da schon mal: Gute Reise!

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