Heinz Rusch – ein gemütlicher Dorfschullehrer

Mit bürgerlichem Namen hieß er Heinz Rusch und war Leiter der Volksschule Sagehorn, in der ich die ersten sechs Jahre meines Schullebens zubrachte.

Schüler und Eltern nannten ihn schlicht „Moppel“, denn – nicht nur sein Kopf – Heinz Rusch war insgesamt kugelrund. Als Lehrer war er gutmütig und gemütlich. Offenbar hatte er selber eine humanistische Schulausbildung genossen und beherrschte – soweit wir das damals beurteilen konnten – Latein und Griechisch.

Seine Fächer: Deutsch, Erdkunde, Geschichte und sogar Englisch („Dan has a van“, „Daddy has a hammer“ aus dem Lehrbuch „Peter Pim and Billy Ball“).

Zudem besaß Heinz Rusch offenbar ein gerüttelt Maß an Menschenkenntnis und Klassenbewusstsein: Den leistungsschwächeren Schülern hielt er immer ein „DBDDHKP“ entgegen: „Dumm bleibt dumm, da helfen keine Pillen“ – und fügte manchmal noch verschmitzt hinzu „SAV – selbst Aspirin versagt!“ Den leistungsstärkeren Schülern dozierte er bei Fehlern auf Latein „Sic tacuisses, philosophus manuisses“ – „Hättest Du geschwiegen, wärst ein Philosoph geblieben!“

War jemand schmutzig und hatte seinen Hals nicht gewaschen, bekam er coram publico zu hören, dass man auf seinem Hals auch Petersilie anpflanzen könne. Auch gab es nach meiner Erinnerung durchaus mal Kopfnüsse mit der Bemerkung „Leichte Schläge auf den Hinterkopf erhöhen die Intelligenz!“

Und wenn es plötzlich mal unangenehm roch in der Klasse und jemand das bemängelte, dozierte er: „Wer es zuerst gerochen, dem ist es aus dem Hintern gekrochen!“ Dann schnupperte er reihum in den Hemdenkragen, um den „Schweinigel“ zu erwischen.

Weil die Dummen ohnehin schon dumm waren, brauchten sie stundenweise nicht am Unterricht teilzunehmen und durften stattdessen im Kohlekeller „Wasserschippen“ – denn durch das Kellergemäuer drang immer wieder Grundwasser ein, der Koks für die Zentralheizung stand somit ständig unter Wasser.

Um die Leistungsunterschiede zu dokumentieren, gab es bei Rusch „Erdkunde-“ bzw. „Geschichtsplätze“ – das war damals wohl Usus, wie man auch bei Walter Kempowski nachlesen kann. Er stellte dazu Wissensfragen; wer am meisten wusste, saß in den 6er Bankreihen ganz oben rechts, wer „dumm“ war, in der untersten Bankreihe ganz unten links . Die Durchlässigkeit war gering – wie ja in unserer Gesellschaft überhaupt. Immerhin weiß ich bis heute, woher Gibraltar seinen Namen hat, nämlich aus dem Arabischen: „Dschebel Tarik“ – „Berg des Tarik“.

Zur Verdeutlichung von Aufgaben (Rechnen?) erfand er die Kunstfiguren „Isidor“ und „Kunigunde“. Auch im Schach war er ein Ass, spielte mE in Bremen am ersten Brett seiner Altersklasse.

Mindestens einmal die Woche wurde ein (meist wieder leistungsschwächerer) Schüler während der Unterrichtszeit nach Oyten zur Kreissparkasse geschickt, um „Kontoauszüge“ zu holen (worunter wir uns damals wenig vorstellen konnten; vermutlich war bei Heinz Rusch mit drei Kindern immer viel Monat im bereits leeren Portemonnaie). Selten kam es hingegen vor, dass wir seinen (Schul-) Garten bearbeiten mussten. Doch war schönes Wetter und hatte Lehrer Rusch Lust auf Gottes freie Natur, dann wurde spontan Wandertag angeordnet. Warum auch nicht!?

Hatte der Pädagogicus zwischendurch mal keine Lust aufs Curriculum, erzählte er gern „vom Krieg“. Er war offenbar auf einem Minenräumboot gefahren. Ich kann noch bis heute erklären, wie die Technik des Minenräumens mit zwei Booten in etwa funktioniert.

Meine Mutter hat Moppel geholfen, den Kindern im Zentralbad Bremen das Schwimmen beizubringen. Alle Holländer können schwimmen – die meisten Sagehorner Kinder damals dann auch. Mancher erzählt noch heute begeistert davon, wie zum Beispiel Dieter Osmers:

„Deine Mutter hat mir auch das Schwimmen beigebracht. Ohne sie wäre ich wohl heute noch Nichtschwimmer. Wir fuhren einmal pro Woche mit dem Bus von Pucks zum Bremer Zentralbad, dort wo heute das Musicaltheater ist. Das kostete jedesmal 50 Pfennig. Wir belegten einen Grundkurs im kleinen Nichtschwimmerbecken. Zum erlangen des Freischwimmers ging es dann ins mittelgroße Becken, wo das Wasser entschieden kälter war.

Moppel Rusch war ein guter Schwimmer und tauchte immer mehrere Bahnen ohne aufzutauchen. Beim Schwimmen ging dann Jopie mit einer Bambusstange voraus. Sie hatte sehr viel Geduld und hat uns immer ermutigt noch ein paar Meter weiter zu schwimmen.

Nach dem Schwimmen war duschen angesagt. In den meisten Familien gab es keine Badezimmer mit Dusche. Wir mussten uns dann nackig unter die Dusche stellen, was für viele sehr genierlich war. Moppel lief immer ohne Badehose an uns vorbei. Er war behaart wie ein Affe, das war das erste Mal, dass ich einen erwachsenen Mann nackt gesehen hatte.

Es war sicher Moppels Verdienst, dass er das alles organisierte und somit eine Vielzahl von Sagehorner Kindern zu Schwimmern gemacht hat. Er hat uns dann später immer erzählt, dass es in der neuen Sagehorner Schule auch ein Schwimmbecken geben werde.“

Rückblickend war dies eine schöne Zeit meiner schulischen Laufbahn von insgesamt drei Schulen. Behütet, übersichtlich und kalkulierbar. Wundersamer Weise haben wir zwar nicht viel Lernstoff bewältigt, aber fürs Leben war wir gerüstet.  Denn wir wussten ja von Heinz Rusch: „Non scholae, sed vitae discismus!“ Dass ich dann gegen Ende des vierten Schuljahrs prompt die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium in Bremen nicht bestand, kreide ich ihm nicht an. Im Gegenteil, verhalf mir mein fehlendes Schulwissen doch zu zwei weiteren Jahren in der Volksschule Sagehorn! Das Elend des Fahrschülerdaseins schob sich dadurch für mich noch ein wenig hinaus.

Die Sagehorner Schule, schreibt Heinz Rusch in seinem Beitrag in „Oyten – ein Heimatbuch“, sei urkundlich belegt bereits im Jahre 1619 gegründet worden. Das scheint mir historisch eindeutig zu früh. Doch ganz gleich, Heinz Rusch hat ein über 2000 Jahre altes Motto wahrgemacht: „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“ – und er konnte es (siehe oben) durchaus auch auf Latein zitieren.

Was noch zu ergänzen wäre: Disziplinprobleme bei seinen Schülern hatte er nicht.

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10 Antworten zu Heinz Rusch – ein gemütlicher Dorfschullehrer

  1. Roswitha Osmers sagt:

    Moin Karl-Heinz

    Das ist ein sehr schöner Erinnerungs-Text an unseren gemütlichen alten Lehrer Heinz Rusch. Bei uns wurde er jedoch Mobbel Rusch genannt – was ja auch viel besser zu den kugelrunden Proportionen passte, weil es viel weicher klingt 😉

    Und was die zwei weiteren Jahre Volksschule Sagehorn betrifft – vielleicht haben ja gerade diese dazu geführt, dass Du so kluge, zum Nachdenken anregende und eigensinnige Texte schreiben kannst und ein Faible für Schmidt Schnauze, Jochimsen… und Originale wie Tante Erna hast. Ich finde übrigens die Youtube-Kabarettchen „Loki und Smoky“ sehr amüsant – auch eine ehrende Hommage an Helmut und Loki…

    Liebe Grüße sendet Roswitha Osmers

  2. Thea Bödecker sagt:

    Hallo Karl-Heinz mit Bindestrich (mein Mann heißt Karlheinz ohne Bindestrich, was immer extra betont wird!)

    Habe vergnüglich die Stories über Tante Erna und Moppel Rusch gelesen.
    Moppel ist ja bei uns im Unterricht immer eingeschlafen. Einmal im Winter war er wieder sehr müüüde und schnarchte, dass es eine Freude war. Da habe ich ihm seine Filzpantoffeln, die er selbst während des Unterrichtes immer trug, gemopst, und draußen in seine Kakao- und Milchtütenverbrennungsanlage“ befördert. Bei der nächsten Verbrennungsaktion brannte das Feuer irgendwie besonders gut… Ich habe noch heute ein schlechtes Gewissen. Kannst Du Dich auch daran erinnern, dass die ganze Schule stets nach Bratkartoffeln roch. Oft gab es Spiegelei und Spinat dazu. Um punkt 12.00 kam seine Frau immer in die Klasse und rief: „Heeeeinz, das Essen ist feeertig!!!“ Mich interessiert immer noch, wie sie wohl hieß. Weißt Du das?
    Gleich nach Heinz kam aber Elsa Schmidt. Sie brachte immer ihren Hund mit zur Schule. Vor dem Unterricht mussten wir erst mal ihren Arien lauschen, die sie uns in schauerlicher Weise entgegen schmetterte. Zur Toilette durfte man nur, wenn man sich meldete. Während einer ihrer Arienvorträge musste (es war in der ersten Klasse) eine Klassenkameradin mal sehr nötig. Sie meldete sich voller Inbrunst, aber Elsa sang noch inbrünstiger. Und dann stimmte meine Klassenkameradin in den Gesang mit ein – sie heulte schrecklich – denn unter ihrem Stuhl war eine Pfütze.
    Super war auch Handarbeit bei Fräulein Morose (mit einem „o“vor dem „r“ oder ohne „o“ vor dem „r“???) in der Schulbücherei. Mehr als sechs Mädchen passten nicht rein und dann gab’s Handarbeit im Stehen. Wir mussten weiße Topflappen mit „Mausezähnchen“ häkeln. Meine wurden nie wieder weiß…
    Bei Herrn Theis bin ich mal in der 3. Klasse vor Langeweile eingeschlafen. Da hat er mich mit seinem Schlüsselbund geworfen und unsanft geweckt. Erschrocken wie ich war habe ich im Affekt zurückgeworfen und ihn an seiner unbehaarten Denkerstirn getroffen… Den Rest des Vormittages habe ich mit dem Rücken zur Klasse in einer Ecke verbracht. Ach, waren das nicht herrliche Zeiten damals? Bei Eis schlittern auf dem Mühlengraben oder im Sommer konnte man sich schönen Matschschlachten in der Sandkuhle hingeben.
    Schreib mal weiter so schöne Geschichten über die Dorforiginale. Pest waren auch welche auf eine Art und Weise. Die haben den Altenheimbewohnern auch immer Bier und Flachmann vertickt. Da gibt’s noch ne interessante Story drüber zu berichten, aber die kann man hier nicht aufschreiben.
    Ich könnte ja noch lange weiter in Erinnerungen schwelgen…
    Es ist schön, dass es noch Leute wie Dich gibt, die solche Sachen aufschreiben und für die Nachwelt festhalten.
    Liebe Grüße sendet Dir Thea 🙂

  3. Karl-Heinz Heidtmann sagt:

    >Kakao- und Milchtütenverbrennungsanlage“
    Die hatte ich ganz vergessen. Ja, die kokelten den ganzen Tag in der Abfallgrube vor sich hin.

    >Mich interessiert immer noch, wie Moppels Frau hieß. Weißt Du das?
    Hilde!

    >Gleich nach Heinz kam aber Elsa Schmidt. Sie brachte immer ihren Hund mit zur Schule.
    Jau, der falsche Spitz. Namen habe ich vergessen. Fiffi?

    >Fräulein Morose (mit einem „o“vor dem „r“ oder ohne „o“ vor dem „r“???)
    Mrose, Frau oder Schwester von Tischler Mrose aus der Blankenstraße.

    >Es ist schön, dass es noch Leute wie Dich gibt, die solche Sachen aufschreiben und für die Nachwelt festhalten.

    Danke, mache ich gerne. Ist ja auch eigene Geschichte – und Vergangenheitsbewältigung.

  4. Elly Marlin (Sierhuis) sagt:

    Ben je histoire over Sagehorn begonnen te lezen. Brengt veel herinneringen naar boven.
    Zo zie ik Inge Rusch nog, in het stroompje wat voor jullie huis voorbij kwam, lopen met haar ganzen, die haar luid kwakend achterna kwamen. In plaats van een hond uit laten liep zij daar blootvoets met haar ganzen.

    Ok bij tante Erna moesten wij, Wilma en ik dan “ zwei paketen Rote Grutzen“ halen. De hele weg werd die zin dan gerepeteerd en als we dan in de winkel aankwamen en wij de mooie zin begonnen van „Zwei““ dan zei Erna meteen al Rote Grutzen. Ik weet niet eens of je dat zo schrijft.

  5. Heike Behnke sagt:

    Moppel Rusch (bei dem ich mal einige Schulstunden ausfallen lassen musste/durfte, um statt dessen seine Enkeltochter zu bespielen). Bei ihm habe ich mein Freischwimmerabzeichen gemacht. Am Otterstedter See, ohne Springen vom 1-Meter-Brett. Das gab es nämlich nicht. Das Abzeichen gilt trotzdem und ich lasse es mir nicht nehmen.

  6. Gerd Bertram sagt:

    Zu den Lehrkräften in Sagehorn fällt mir noch ein, dass es noch zwei weitere Frauen gab die in der Volksschule unterrichteten.
    Frau Doblies, die wohnte auf dem Berg bei Wilhelmine Einolf und Frau Eckstein die glaube ich in der Schule wohnte und immer eine graue Kunstpelz-Jacke anhatte.
    Vielleicht wissen noch einige etwas Genaueres.
    MfG GHB

  7. Karl-Heinz Heidtmann sagt:

    Also, das ist für mich völlig neu! Von denbeiden habe ich noch nie gehört. Nun bin ich aber ja auch erst einige Jährchen nach Dir dort zur Schule gegangen. Da war die Schule mit vier Lehrern besetzt: Moppel Rusch als Leiter, Elsa Schmidt für die ABC-Schützen, Viktor Guth, der kranke Kinderverwamser mit den Klassen 3 und 4. Walter Theis mit den Klassen 7 und 8 (Naturwissenschaften).

  8. Heike Behnke sagt:

    Ich wurde Ostern 1965 eingechult und kann mich an 4 Lehrer/innen erinnern: Moppel Rusch, Walter Theis, Frl. (!!) Mrose und Herrn Tschöke. Herr Tschöke war ein Prä-68iger, seiner Zeit voraus und für mich einer der besten Lehrer, die ich jemals hatte.
    Er hat mir Spaß am Lernen vermittelt; ich fand ihn immer fair und sicher im Umgang in Umgang mit der kurzen oder langen Leine. Ich bin ihm sehr dankbar für meinen Start ins Schulleben – es wurde nicht besser!

  9. Dieter Osmers sagt:

    Neulich habe ich auf einem Parkplatz einen der besagten dummen „Wasserschöpfer“ getroffen. Werner P., braungebrannt und Fahrer eines Mercedes sprach mich auf unsere gemeinsame Schulzeit an. Die Prügelattacken von V.G. waren ihm in bleibender Erinnerung geblieben. War er doch einer Opfer der am meisten darunter gelitten hatte.
    Trotz der vielen Stunden, die er mit Wasserschöpfen im Heizungskeller der Schule verbrachte, hat er doch zu einem gewissen Wohlstand gebracht.
    Ein Haus auf Mallorca und Eigentümer mehrere Häuser, die er vermietet hat.
    Sieh mal einer an!!!

  10. Ja, es ist erstaunlich, was trotz Schule aus manchen Schülern im positiven Sinne werden kann!

    Was das Entdecken von Begabungen betrifft, ist es aber heute mE viel schlimmer geworden:
    Die Lehrer konfrontieren die Eltern nun noch mit negativen Abweichungen ihrer Kinder.
    Und die Wirtschaft nimmt erheblichen Einfluss auf das Curriculum – als ob Kinder nur noch für die Verwertbarkeit ihrer Arbeitskraft ausgebildet würden. Erbärmlich!

    Sein Talent muss wohl jeder selber entdecken – und wenn darüber auch Jahrzehnte vergehen – ich denke, Du kannst das aus eigener Erfahrung bestätigen! Unsere Lehrer waren daran jedenfalls nicht beteiligt.

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