„Tante“ Margret – mit diesem Titel sprach man in meiner Kindheit alle Frauen etwa im Alter der Eltern an, auch wenn diese gar nicht zur Verwandtschaft gehörten – war wohl das, was man als eine Dame aus gutem Hause bezeichnete.
Als Tochter des Kammermusikers J. war sie ein Beispiel Bremer Bürgertums. Sie wuchs mit ihren beiden älteren Geschwistern in einem großen Haus im Bremer Steintorviertel auf. Das Haus mit den in ihm wohnenden drei Generationen fand ich als Kind immer sehr beeindruckend. Dort lernte ich erstmals einen „Wintergarten“ kennen und im „Souterrain“ stand eine riesige gusseiserne Badewanne auf Löwenfüßen. Die Zimmerdecken im Erdgeschoss waren unfassbare vier Meter hoch. Und natürlich war das gesamte Haus zentral beheizt, nirgendwo ein Ofen wie daheim.
Unten wohnten die Eltern, in der Mitte „Tante“ Margret, mit „Onkel“ HK und oben Margrets Bruder H. mit Frau und Sohn. Mit zur Entourage gehörten ihre Schwester T. nebst Ehemann, sowie Cousine D. und Ehemann mit Sohn. Die 50er und 60er Jahre in Bremen sind mir in guter Erinnerung: Hier wurden nicht nur Kindergeburtstage gefeiert, hier waren Kinder auch zu den Silvesterfeiern und Geburtstagsfeiern der Erwachsenen willkommen.
Man verstand es, gemeinsam zu feiern. Vermutlich auch, weil man den schrecklichen Krieg überlebt hatte. Die Damen bildeten alsbald einen Doppelkopfclub. Dieser hat jahrzehntelang gehalten und wurde erst Ende der 90er Jahre von Margret aus unbekannten Gründen aufgesagt.
Beeindruckend dann auch der Kauf eines Wochenendhauses Ende der 50er Jahre in Heilshorn in der Garlstedter Heide. Besonders interessant dort war das „Klo“ mit dem dicken Deckel, aus dem beim Zuklappen automatisch Torf auf das Stoffwechselprodukt fiel. Später wurde dieses eher einfache Wochenendhaus dann zu einem kompletten Wohnhaus als dauerhafte Residenz umgebaut. Das Patrizierhaus in Bremen wurde nach Auszug von Bruder und Schwägerin bzw. dem Tod der Eltern in den 70er Jahren verkauft.
Margret war streng und konsequent, auch in der Kindererziehung – sie hatte ein festes Weltbild. Ich erinnere mich an Sätze wie: „Geh aufrecht und nicht wie ein Bauer, der Kartoffeln in der Ackerfurche sucht!“ Bemerkenswert auch die lange vertretene Ansicht, dass der Arbeiter früher keinen Bohnenkaffee getrunken habe – und dies daher auch gegenwärtig nicht notwendig sei. Mit ihrem Mann hatte sie jemanden, der ihrem Weltbild und ihrer Meinung stets vollends zuzustimmen vermochte.
Noch im hohen Alter, als sie schon in eine Wohnung in der Bremer Heimstiftung eingezogen war, hat Tante Margret versucht, sich in die Welt des Computers einzuarbeiten. Doch dass man im Leben nicht alles mit Intelligenz und Willen steuern kann, wurde ihr bereits im Zusammenhang mit ihrer Adoptivtochter schmerzlich bewusst. Ein dunkles und trauriges Kapitel gewiss.
Tante Margrets Torten und Kuchen waren Weltklasse. Ihr Frankfurter Kranz ist bis heute uneingeholt. Dazu gab es „Kaba“, etwas, das ich gar nicht kannte – wir tranken daheim auf dem Lande mit Zucker und einer Prise Salz angerührten „Bensdorp Kakao“ (einmal aufkochen!) Überhaupt alles, was sie in Haushaltsfragen in die Hand nahm, war stets vorbildlich – bei ihr war alles immer formvollendet.
Für ihren Ehemann hat sie stets vorbildlich gesorgt. Hilfsbereitschaft war für beide ohnehin selbstverständlich. So hat man sich gleichermaßen um Schwester wie um Schwager in deren letzten Lebensjahren gekümmert. Immer nahm sie Anteil, immer war sie interessiert und konnte bis ins hohe Alter die Entwicklung anderer Menschen mit Interesse verfolgen. Noch mit 90 fuhr sie gerne und gut Auto – mindestens 60 Jahre unfallfrei versteht sich.
Dass der Umgang mit so einem willensstarken Menschen für andere willensstarke Menschen nicht immer ganz einfach war, ist nachvollziehbar. Für Tante Margret gab es im Prinzip nur schwarz oder weiß. Daran konnten auch Freundschaften scheitern. Konsequenz war ihr wichtig. Jeder hatte eine Chance, wer aber aus dem Raster fiel, musste mit Disqualifikation rechnen. Nicht immer waren uns Außenstehenden die Gründe für solches Verhalten bekannt.
Man verkehrte in guten Kreisen und auch der letzte Umzug in die Bremer Heimstiftung war von Weitsicht und Stil geprägt. Depression, Resignation oder Zweifel waren ihr fremd. Erst im letzten Lebensjahr hat sie der Mut angesichts ihrer Erkrankung verlassen. Resolut und realistisch hat sie es aber auch damit gehalten: Lieber ein schnelles Ende als ein langsames Siechtum – obwohl sie ihren Mann aus pragmatischen Gründen gerne überlebt hätte. Dies zu einem Datum, wo noch längst nicht alles entschieden war.
Wieder ist ein Mensch von uns gegangen, den wir für nahezu unsterblich hielten. Tante Margret ist 92 Jahre alt geworden. Ich hätte ihr noch mindestens zehn weitere Lebensjahre zugetraut.