Seit zehn Jahren gibt es die Frankfurter „Adorno-Vorlesungen“. Initiiert vom Suhrkamp Verlag und dem ortsansässigen Institut für Sozialforschung orientiert man sich am Werk von Theodor W. Adorno und fühlt sich dessen intellektuellem Anregungspotential verpflichtet.
Wolfgang Streeck, Direktor am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Verhältnis von Markt, Staat und Demokratie sowie europäischer Integration und demokratischem Kapitalismus. Dies nicht zuletzt in einer historischen Perspektive, die es erlaubt, die gegenwärtige Krise eines von Finanz-märkten getriebenen Kapitalismus nicht als metaphysische Notwendigkeit zu deuten.
Die wissenschaftliche Disziplin der „Politischen Okonomie“ deckt die Zusammenhänge zwischen abstrakten ökonomischen Kennziffern, Klasseninteressen und politischer Willensbildung auf – und genau das tat Streeck mit seiner Vorlesung unter dem Titel „Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“.
Die Erfindung des modernen westlichen Wohlfahrtsstaats nach 1945 war die Antwort auf die sozialen und politischen Krisen der Dreißiger Jahre. Im „Keynesianismus“ fand der Sozialstaat das Instrument zur Ausbalancierung der Gegensätze von Kapital und Arbeit. Ein starker, mit Interventionsmacht ausgestatteter Staat garantierte, dass dem Einfluss der Märkte Grenzen gesetzt waren, dass der Organisationsgrad der lohnabhängigen Arbeit hoch war und dass auch die Kapitalseite, auf das Gemeinwohl verpflichtet wurde.
Rund dreißig Jahre hat das keynesianische Modell im Sinne sozialer Gerechtigkeit funktioniert. Es konnte gelingen, weil es mit Hilfe kreditfinanzierter staatlicher Ausgabenprogramme gelang, sich einerseits die Loyalität der Wählermassen zu sichern und andererseits in der Systemkonkurrenz zwischen Kommunismus und Kapitalismus die Überlegenheit des Letzteren zu demonstrieren.
Doch dann kam ein Paradigmenwechsel. In der Ära Reagan und Thatcher wurden die Märkte in großem Stil dereguliert und Staatsunternehmen privatisiert. Vieles, was einst staatliche Aufgabe war, wurde an die Märkte delegiert: Energie, Müll, Altervorsorge usw.
Dieser Paradigmenwechsel war aber nicht etwa das Ergebnis einer Uberforderung des Sozialstaats durch steigende Ansprüche der Bürger („Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt!“), sondern das Resultat der Bemühungen der Kapitalseite, die durchschnittliche Profitrate nachhaltig zu steigern. Und so ist denn auch die Krise des Sozialstaats keine Ausgabenkrise, sondern vielmehr eine Einnahmenkrise: Die Schonung der großen Einkommen und Vermögen, die sich die Konkurrenz der Nationalstaaten um die niedrigste Steuerquote zunutze machen, führt direkt in den Schuldenstaat.
Es folgte ein Siegeszug der Finanzindustrie, die heute ganze Staaten und Gesellschaften in Geiselhaft nimmt. Dazu brauchte es schwache, abhängige, erpressbare Staaten, wie wir sie heute allerorten haben. Das große Geld profitiert im großen Maße vom Schuldenstaat. Und genau deshalb hat die Finanzindustrie auch kein Interesse am schuldenfreien Gemeinwesen! Denn der schwache Staat bietet frei flottierenden Finanzströme die Möglichkeit, in Staatsanleihen zu investieren, die der Staat sodann mit Zins und Zinseszins zurückzahlen muss.
Und wenn dieses System einmal nicht klappt, weil ein Staat finanziell am Ende ist, hält man sich bei den anderen Staaten bzw. deren gemeinsamen Kassen schadlos – Stichwort „Rettungsschirm“. Dort kann man dann „billiges“ Geld leihen, das man kurz vorher erfolgreich teuer verliehen hatte – ein perfektes, wenn auch perfides System!