Über Zeit kann man nur in Metaphern sprechen. Sprachbilder nämlich sind es, die uns die Wirklichkeit erschließen und zu verstehen helfen. Doch es sind Wortbilder, mit denen versucht wird, die Realität zu verschleiern, zu verbergen und schön zu reden. Zur zweiten Kategorie zählt die etwas schiefe Metapher von den offenen und den geschlossenen „Zeitfenstern.“ Vor zwanzig, dreißig Jahren sprach noch keine Politikerin, kein Manager, weder ein Leitartikler noch eine Sportlerin von einem „sich auftuenden Zeitfenster.“ Heute ist das so häufig zu hören, wie die schulmeisterlich infantilisierende Ermahnung, doch bitteschön die Hausaufgaben zu machen. Wer bei den Diskursen der wichtigtuerischen Dringlichkeitsdynamiker mithalten will, kommt in unseren Tagen ohne „Zeitfenster“ nicht mehr aus.
„Zeitfenster,“ das hört sich nach perfekt durchterminiertem Tagesablauf an, nach Überbeschäftigung und permanentem Zeitdruck. Es ist die Lieblingsvokabel der etwas verschwitzt Dreinschauenden, zu deren selbstgewähltem Schicksal es gehört, stets hinter ihrem Leben herlaufen zu müssen, weil sie immerzu an den offenen Türen der irdischen Zeitparadiese vorbeilaufen, um ihren Terminkalender auf dem Stepper im Fitnessstudio noch schnell auf den neuesten Stand zu bringen. Karriere hat die begriffliche Neuschöpfung „Zeitfenster“ im Begleittross der Eroberungsfeldzüge der New Economy gemacht. Dort hat sie die „Frist“ abgelöst und sie durchs Zeitfenster entsorgt. Seitdem bereichern „Zeitfenster“ deren aggressiv-imperialistische Investmentterminologie. Und da diese sich bekanntlich mit Vorliebe in globalisiertem Outfit zeigt, kennen wir das Zeitfenster auch als „time window.“
Zwar schauen die Arbeitenden in Deutschland immer noch, das hat ein Professor Wieland, seines Zeichens Wirtschaftspsychologe an der Universität Wuppertal, kürzlich herausgefunden, täglich 60 Minuten aus dem Fenster. Das geht natürlich in einer durchrationalisierten Zeit-ist-Geld Sofortbildgesellschaft nicht! Das soll, das muss sich ändern! Möglichst schnell! In Zukunft wird so etwas nur noch gestattet, wenn es sich dabei um terminlich fix eingerahmte Zeitfenster handelt: „Machen Sie schnell, in zwei Minuten schließt Ihr Zeitfenster!“ Und kaum hat’s der Chef gesagt, da geht das Zeitrollo auch schon runter und man wird auf die nächstliegende Zeitschiene geschoben, die schnurstraks an einen Punkt führt, wo sich Aufgabenberg neben Aufgabenberg türmt. Da dauert es auch nicht lang, und man torkelt, verzweifelt über die sich widersprechenden Zeitanforderungen, gegen das eine oder andere geschlossene Zeitfenster und bricht sogleich in Jubel aus, wenn es sich wider Erwarten plötzlich mal für einen Augenblick öffnet. Doch Vorsicht! Nur allzu schnell stürzt man aus dem hinaus, sieben Stockwerke tief, nippelt ab und die Zeit sagt nur mehr „Adieu.“
Bleibt nur der gute Rat – Zeitmanager herhören! Ein guter Rat, den könnt Ihr doch immer gebrauchen – meidet Zeitfenster, haltet Euch fern von ihnen. Zeitfenster haben nämlich haben soviel – oder besser, so wenig – mit Zeit zu tun, wie der Kuckuck mit der Uhr. Und mit Fenstern, diesen vielgestaltigen Grenzobjekten zwischen dem Innen und dem Außen, die in der westlichen Kultur eine so einmalige Bedeutung haben, hat das Zeitfenster erst recht nichts gemein. Aber so ist das, wenn man nichts von Zeit versteht, nicht weiß, was sie ist, wie sie aussieht, woher sie kommt und wohin sie geht, sich aber gezwungen sieht, immerzu über sie reden zu müssen.
Wer „Zeitfenster“ sagt, das verrät uns die Statistik, sagt auch „zeitnah“ und nicht mehr baldmöglichst, sofort oder sogleich und bewegt sich mit Vorliebe in „Zeitkorridoren“ und auf „Zeitschienen.“ Nur leider meist im Kreis. Allein den „Zeitgenossen,“ den kennen die Öffner und die Schließer der Zeitfenster nicht, zumindest vorläufig nicht. Der „Zeitgenosse“ hat seit dem Fall der Mauer Bewährungsfrist. Solange die nicht abgelaufen ist, muss der Zeitgenosse für einige Zeit aussetzen. Für ihn ist derzeit kein Zeitfenster offen. Wörter kommen, Wörter gehen, mal aus dieser mal aus jener Richtung, niemals aber kommen sie durch ein Zeitfenster.
So liebe Mitglieder und Fans des Vereins zeitsinniger und zeitgelehrter Zeitliebhaber, das nächste mal berichte ich Euch etwas über den vom Aussterben bedrohten oberbayerischen Brauch einer speziellen Form des interaktiven Liebesbeweises, dem einstmals sehr verbreiteten, aber nicht ungefährlichen „Zeitfensterln“.