Franz ist sichtlich genervt. Sechs Wochen ist der achtjährige Enkelsohn seiner russischen Frau Ivana nun schon zu Besuch. Das Kind habe ADHS behauptet der ansonsten immer tiefentspannte und durch nichts zu erschütternde Franz.
Was die Quecksilbrigkeit des neugierigen Kindes betriftt, mag er Recht haben. Wassily kann tatsächlich keine fünf Sekunden still sitzen. Immer ist er in Bewegung. Er nimmt die Welt mit allen seinen Sinnen wahr. Er muss alles anschauen, anhören, anfassen, beschnuppern, umhergehen, erkunden. Grantiert ist Wassily hoch intelligent, denn wer sich so für seine Umwelt interessiert, erfährt auch viel. Doch mit seiner Motorik kann er andere schon raschelig machen.
Dieses Kind braucht (Groß-) Eltern mit viel Zeit, die Angebote machen können, mit ihm spielen, basteln, die Welt erkunden. So einfach wäre das. Doch wenn beide Eltern berufstätig sind und die Großeltern weit weg wohnen, was dann? Meist landen solche Kinder dann vor dem Fernseher, der Spielkonsole oder dem PC. Und dann kommt irgendwann, wenn die Eltern mit ihrem Latein des inzwischen verhaltensauffälligen Kindes am Ende sind, irgendein Kinderpsychologe und diagnostiziert ADHS.
Gewiss, es gibt neurologische Untersuchungen, die ADHS als neurologische Störung nachweisen zu können meinen. Doch trägt nicht besonders auch das soziale Umfeld unserer veränderten Gesellschaft einen erheblichen Anteil zu diesem Phänomen bei? Schließlich heißt es ja auch „Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom“. Zwar will die klinische Forschung damit sagen, dass das Kind seine Aufmerksamkeit nicht auf eine Sache lenken könne, doch vielleicht bekommt das Kind auch einfach selber nur zu wenig Aufmerksamkeit – und erlebt dies als Defizit?
Franz ist jedenfalls froh, dass Wassily morgen wieder nach Hause fliegt und er wieder seine Ruhe hat.