In memoriam – meine Patentante Anni Bertram

Foto: khh

Anni Bertram war meine Patentante. Kurz habe ich bereits hier über sie berichtet. An einem Sonntag im Januar dieses Jahres besuchte ich sie. Normalerweise besuche ich sie einmal im Jahr zu ihrem Geburtstag. Doch ab einem Alter von 90 Jahren sollte man nicht mehr ein ganzes Jahr verstreichen lassen. Besonders dann nicht, wenn man drängende Fragen über Vergangenes an sie hat.

 

Ich fand sie im Aufenthaltsraum, wo sie mit einer anderen Dame kniffelte. Besuch hin, Besuch her, das Spiel wurde zu Ende gespielt. Natürlich hat sie gewonnen.

Anni Bertram, geb. Cyriacks (die Eltern stammen aus Ottersberg, die Großeltern aus Cluvenhagen) wurde am 21. August 1920 in Sagehorn im Eisenbahnerhaus in der Kirchweyher Straße geboren. Der Name Cyriacks stammt wohl ursprünglich aus Griechenland.

Der Vater von Anni Bertram war nämlich Eisenbahner, wie so viele Männer in Sagehorn. Er starb mit nur 33 Jahren an einer Lungenentzündung, als Anni 4 Jahr alt war, also im Jahre 1924.

Acht Jahre lang besuchte Anni die Volksschule in Sagehorn – bei den Lehrern Lehrer Brinkmann und Guth, vermutlich waren die Klassen damals noch vierzügig.

Nach Beendigung der Schule ging sie mit 15 Jahren für anderthalb Jahre ins „Milchgeschäft Engelhardt“ in Oyten 1935.

Danach hat sie anderthalb Jahre als Haushaltshilfe bei Lehrer Brinkmann gearbeitet. „Beim Kochen muss man mit den Augen stehlen!“, hat sie dort gelernt.

Mit 18 Jahren lernte sie Friedrich (Friedel) Bertram aus Achim auf Sagehorner Schützenfest kennen und heiratete ihn am 12. Oktober 1938. Friedel war von Beruf Schneider. Am 4. Februar 1939 wurde Tochter Renate geboren, am 4. Juni 1940 Sohn Gerd-Hermann.

Im Jahre 1940 musste Friedel zur Militärausbildung nach Hamburg. Er kam noch zu diversen Kurzurlauben nach Hause. Dann Weihnachten 1940 das Telegramm, dass er sofort zu seiner Einheit einrücken solle. Danach ist er nie mehr wieder heimgekehrt. Als Soldat musste er zunächst nach Frankreich, dann nach Kiew in Russland. Gefallen ist er bei einem Bombenangriff im Jahre 1942 in Konstantinowka, ca. 200 km nördlich der Halbinsel Krim und heute auf einem Soldatenfriedhof in Donezk, Ukraine, begraben.

Als Friedel Bertram starb, musste die Familie das Eisenbahnerhaus verlassen – ihr Vater war noch nicht lange genug bei der Bahn, um ein lebenslanges Wohnrecht zu erhalten. Sie zog mit ihrer Mutter und den beiden Kindern in das Haus von Johanne Richter „Auf dem Berge 78“. Dort hat sie bis zum Jahre 1974 gewohnt. Die Verwaltung des Hauses hatte meine Mutter inne.

Als Kriegerwitwe übte sie nun verschiedene Tätigkeiten in Sagehorn aus. Die Witwenrente erlaubte einer Mutter mit  zwei Kindern keine großen Sprünge. Glücklicherweise hatte Mutter Meta ja auch noch eine Witwenrente, damit war die Miete erstmal gesichert. Doch zum Leben reichte das nicht. Und doch hat sie ihre beiden Kinder couragiert und vorbildlich groß gezogen.

So hat sie mit ihren beiden Kindern in den fünfziger Jahren das „Achimer Kreisblatt“ in fast jedes Haus getragen, oft mit einer Beilage der Kinoreklame, für die es dann auch mal zwei Freikarten gab für einen Kinoabend bei Kurt Meyer (später „Sillinger“) und später in Oyten bei „Tante Lina“  (heute „Bitter“).

Doch zunächst arbeitete sie wohl bei der Milchkontrolle der Molkerei.

Danach hat sie zwei Jahre bei Fidi Mindermann (dem Vater von „Mecki“), dem Herrenschneider in der Sagehorner Dorfstraße gearbeitet.

Zehn Jahre lang hat sie die Volksschule Sagehorn sauber gemacht.

Im Theater Bremen hat sie in den 50er Jahren als Aushilfe in der Theaterschneiderei gearbeitet, zum Beispiel für Weihnachtsmärchen. Ihre Mutter, „Oma Meta“, hat dann die Schule für sie saubergemacht.

Bei Karstadt hat Anni Ende der 50er Jahre in der „Herrenberufsabteilung“, dann in Lampenabteilung (wo sie übrigens einen Kurzschluss erzeugt und den Lampenabteilung lahm gelegt hat) als Verkäuferin zu Ausverkaufszeiten gearbeitet. Als sie meinem Vater und meinem Onkel Joop zwei „prämierte“ (als Verkäufer gab es auf bestimmte Waren Provision) kurze Hosen verkaufte, bot ihr Chef ihr eine Vollzeitstelle in Schneiderei an. Doch das lehnte sie ab. Ging ja nicht, sie hatte ja zwei kleine Kinder.

Ab 1963 hat sie jeden Monat die Stromzähler für das „Überlandwerk Nordhannover“ abgelesen, ab 1965 auch die Wasserverbräuche für das „Wasserwerk Verden“, beides in Sagehorn und Bockhorst – insgesamt 25 Jahre lang bis 1988. Damit kam sie einmal im Monat in jeden Haushalt. Später wurde nur noch einmal jährlich abgelesen. Der Arzt in Bockhorst wollte sie doch partout nicht reinlassen, weil sie sich erst für den kommenden Tag angekündigt hatte! Ordnung muss schon sein! Also, am nächsten Tag noch mal eben nach Bockhorst mit dem Fahrrad (Marke Miele, unverwüstbar, mit dem spinnennetzartigen Mantelschützer am hinteren Rad) strampeln!

Von 1961 bis 1965 hat sie bei Bäcker Esselmann im Laden gearbeitet und Leni Esselmann nach dem plötzlichen Tode ihres Hermann tatkräftig unterstützt. Da waren ja fünf Kinder zu versorgen! Und Leni hat schwer unter dem Verlust ihres Mannes gelitten. Unser Landarzt Dr. Stinner hat Anni erklären müssen, dass es auch ernstzunehmende seelische Krankheiten gäbe, als sie das Leiden Lenis gar verstehen konnte. Sie selber hatte es doch auch nicht leicht gehabt! Von wegen im Bett liegen bleiben, da hätte Mutter Meta ihr aber schön den Marsch geblasen! Sowatt gift dat nich bi us!

Ihre letzte fest angestellte Tätigkeit war bei Sillinger in der Tennishalle vom 1. Oktober 1978 bis 1983 (zunächst zum Putzen, später auch in der Wirtschaft und Küche).

Danach wurde Mutter Meta krank. Hermann Sillinger hat Anni auf ihren Wunsch hin dann gekündigt. Ein Attest des Orthopäden zusätzlich half für die Renteneinreichung. Ab 1983 ist Anni dann offiziell mit 63 Lebensjahren in Rente gegangen. Sie ist inzwischen vierfache Großmutter und mehrfache Urgroßmutter. Oma Meta ist 1988 mit 94 Jahren gestorben.

Am 1. Mai 1975 ist Anni von der „Bergstraße 78“ zu Einolfs in den Eschenweg 4 umgezogen.

Am 17. Juni 1989 ging es dann nach „Auf der Heide 45“.

Seit dem 26. August 2010 wohnt sie nun im „Alten- und Pflegeheim Lueßen“ in der Sagehorner Dorfstraße 83 – 85, nachdem die Knochen nicht mehr so wollen und auch das Augenlicht sehr schlecht geworden ist. Doch ihr Geist ist rege wie eh und je. „Sehen kann ich nicht mehr, aber ich kann ja noch hören!“, sagte sie und berichtete mir von der letzten Sendung „Wer wird Millionär“ in Hörform – ein phänomenales Gedächtnis! Sie sagte mir am Telefon die ersten beiden Strophen des Gedichts „Das Lied vom braven Manne“ von Gottfried August Bürger auf“. Respekt!

Als einst das Haus meiner Großeltern wenige Tage vor Kriegsende 1945 von den Engländer in Brand geschossen wurde (weil einige hirnverbrannte Sagehorner vom Volkssturm noch eine Panzersperre vor dem Ortseingang aufgebaut hatten) und bis auf die Grundmauer niederbrannte, hat meine Mutter viele Monate, wenn nicht Jahre bei Anni gewohnt. Da ist eine lebenlange Freundschaft entstanden.

Mit meiner Mutter, mit Ilse, Elfriede, Anne, Margret, Dela, Trude und vielen anderen Frauen des Ortes hat Anni dann viele Jahrzehnte lang gekegelt: „Rechte Bahn links ansetzen! – Pudel! – Alle Neune! – Prosit!“

Besonders gern hat sie aber Doppelkopf gespielt, leidenschaftlich: „Alle gesund? Sprich zu mir! – Wer kommt? – Hochzeit! – Buben Solo! – Kontra! – Solo spielt man mit Ässen! – Ein Herz hat jeder!  – Pikus der Walspecht! – Karte oder ein Stück Holz! – Da ist ja Karlchen Müller! – Trumpf ist die Seele vom Spiel! -Gegen die Alten! – Fuchs gefangen! – Keine 60, keine 90, keine 120! – Einzahlen, her mit dem Geld! – Wer gibt? – Wer möchte noch einen Eierlikör?“

Auch ich habe meine Patentante immer als liebens- und ehrenwerte, nie über ihr Schicksal oder anderes Ungemach klagende Frau kennengelernt. Nach meinem Wissen konnte man (außer meiner Mutter – aber das war nicht weiter schwierig) keinen Streit oder Händel mit ihr anfangen – dazu ist sie einfach zu umgänglich und bescheiden. Ich habe sie immer sehr gemocht – und in diesem Sinne ist dieser Beitrag als eine „Hommage“ zu verstehen.

Wenn auch vieles hier ungesagt bleiben musste und dieser kurze Lebenslauf meiner Patentante als Kriegerwitwe mit ihren vielen Erlebnissen und Geschichten ihrem gesamten Leben sicher nicht gerecht wird, so diene er aber doch als Beispiel für das Leben in der Nachkriegszeit auf dem Lande. Er ist aus meiner Sicht mindestens genauso berichtens- und erhaltenswert, wie der mancher ihrer berühmten Zeitnossen. Wer etwas ergänzen möchte, ist herzlich willkommen!

Hier erzählt sie uns noch abschließend vom Austragen des „Achimer Kreisblatt“ und einem Kinobesuch.

Am 27. April 2012 erlöste sie der Tod von den Beschwerden des Alters. Liebe Tante Anni, danke für alles – eine bessere Patentante kann man sich nicht wünschen!

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2 Antworten zu In memoriam – meine Patentante Anni Bertram

  1. Gerd Bertram sagt:

    Die Mutter deiner Patentante, meine Großmutter stammte aus Oyten und zwar war sie aus dem Hause Mindermann (Lindenstrasse) früher Sagehorner Weg.
    In diesem Haus waren immer Männer die aktiv zur Oytener Feuerwehr gehörten. Der Vater meiner Großmutter war ebenfalls bei der Feuerwehr in Oyten, denn er war von Beruf Dachdecker und somit beim Löschen auch schwindelfrei.
    MfG. GHB

  2. Heike Behnke sagt:

    Anni Bertram war immer mit dem Fahrrad unterwegs als Zählerableserin für die ÜNH; vor allem meine Oma hat sich auf diesen jährlichen Termin sehr gefreut. Die war nämlich körperlich eingeschränkt und kam nicht mehr so viel unter die Leute: Anni war wohl auch immer sehr informativ.

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