Schon die ersten Menschen waren Nomaden – und auch der moderne Mensch ist immer noch mobil.
Wir sitzen in einem Großraumabteil eines ICE der Deutschen Bahn AG. Es ist ein ausgewiesenes „Ruheabteil“ – Lärmen und Telefonieren sind explizit (entsprechende Icons weisen darauf hin) nicht erlaubt.
Bereits wenige Meter nach Verlassen des Hannoverschen Hauptbahnhofs klingelt das erste Handy. Man sitze im ICE und dieser verlasse gerade Hannover -Reisehominiden!
Der vor mir sitzende Kollege macht eine Frau am Telefon an. Zwei Reihen vor mir links versetzt beteuert ein Mitarbeiter eines Unternehmens einem Kunden durchs Telefon, dass „das gar nicht sein könne!“
Links vor mir sitzt ein Lehrer mit seinem neuen iPhone und macht jene typischen neuen Fingerbewegungen auf den Display: a) Wischen mit dem Zeigefinger nach links (weitere Apps anzeigen) und b) Öffnen von geschlossenem Zeigefinger und Daumen (Zoomen). Später wird er der sehr kleinen aber drahtigen Kollegin (45 Kiloklasse) neben ihm zeigen, wie man eMails sortieren kann. Sie quallt im Gegenzuge drei Stunden ununterbrochen auf ihn ein und versucht offenbar, ihm mit sozialempathischen Überlegungen zu imponieren. Er, Mitte 30, 1,95 m groß, 90 kg schwer, für sie – so, wie sie ihn anhimmelt – offenbar der ideale Beschäler, interessiert sich aber eindeutig mehr für sein iPhone, möglicherweise, weil er dort mehr Intelligenz vermutet. Zwischdurch teilt sie per Handy mit, dass sie nicht am Elternabend teilnehmen könne.
Verschämt teilt der links neben mir sitzende Herr die Ankunftzeit des ICE am Telefon mit. Vor mir schaut ein sich offenbar in die 1. Klasse verirrter Kollegeaus den bildungsfernen Schichten eine DVD mit Sylvester Stallone an. Es wird viel mit Maschinengewehren geschossen, alles explodiert ständig. Ich sehe es in der Fensterscheibe und höre es laut und deutlich aus den Ohrstöpseln.
Nahezu alle Reisenden in diesem 1. Klasse-Großraumwagen sitzen entweder vor einem mehr oder weniger modernen Notebook, manche vor einem Netbook, einer immerhin schon vor einem iPad. Alle benutzen mindestens einmal ihr Mobiltelefon, die Mehrzahl legt es in Sichtweite, einer hält es die ganze Zeit in der Hand – es ist der Kollege Lehrer mit dem iPhone.
Was ist in uns gefahren, dass wir selbst bei einstündigen Bahnfahrten unbedingt erreichbar sein wollen? Wir schrecklich ist die immer wieder neu gemachte Erfahrung, dass uns trotz zunehmender Erreichbarkeit in einem Hochgeschwindigkeitszug kaum einer, nein keiner anruft oder wenigstens eine eMail sendet? Immer wieder wird der Posteingang geprüft. Nein, immer noch nichts. Interessiert sich denn keiner für uns? Na, wenigstens sieht jeder, dass man sich so ein edles iPhone leisten kann.
Der Mensch als Narzisst. iPhone, iPad und iPod schmeicheln unserem Selbstwertgefühl. Die vorbeiziehende Herbstlandschaft? Nachdenken über das Leben an sich? Ruhen? Fehlanzeige!
Sehr geehrter Herr Heidtmann,
gelegentlich schaue ich bei Ihrem Blog vorbei und erfreue mich häufig an der Art, wie Sie Ihre Erlebnisse schildern.
Zu Ihrem o.g. Blog-Eintrag mag der folgende Beitrag eine interessante Ergänzung darstellen:
http://www.billiger-telefonieren.de/handy/nachrichten/was-mitgehoerte-handygespraeche-so-nervig-macht_28964.html
Übrigens habe ich auch schon mal das Gegenteil bei einer Bahnfahrt
erlebt: Absolute, schon fast unheimliche Stille (und nein, ich war keineswegs der einzige Fahrgast)!
Alle Fahrgäste in dem Großraumwagen hatten Kopfhörer auf (der arme
Schaffner) und ich reiste zweite Klasse (die scheint seltsamerweise auch pünktlicher zu sein ;-))
Mit freundlichen Grüßen
Peer Wichary