In den ersten Jahrzehnten meines Lebens gehörte der Tod in das Reich der Fabelwesen – heute ist er fast täglicher Gast. Gestorben wird immer.
Bei einer Lebenserwartung von 80 Jahren hat der Mensch etwa 700.000 Stunden zu leben. Davon sieht er 8,3 Jahre fern. Rund 9000 Stunden steht er im Stau. Über 3000 Stunden wartet er vor roten Ampeln, mehr als 2000 Stunden sucht er nach Schlüsseln. Für das Rasieren gehen 1800 Stunden drauf, für das Auftragen des Lippenstifts 260 Stunden. Immerhin träumen wir vier Jahre.
Viele Menschen verhalten sich so, als sein die Zeit ihr Feind, der sie ihr ganzes Leben lang verfolgt. Viele haben den Eindruck, dass sie ihr Leben vergeuden. Man weiß, dass der Tod mit Sicherheit bevorsteht, doch man verhält sich so, als hätte die Endlichkeit des Lebens nichts mit der eigenen Person zu tun.
„Guten Tag, ich bin der Tod und komme, um Sie abzuholen.“ – „In Ordnung, aber machen Sie schnell, ich habe keine Zeit!“
Am Ende des Lebens wird dann klar, das war nicht die Probe für etwas, das noch kommt, sondern die Aufführung selber.
Leben ist Bewegung. Stillstand ist Tod. Weil alles in Bewegung und nie abgeschlossen ist, hat man den Eindruck, alles könne immer noch besser sein: Das Leben länger, der Besitz größer, die Stunden ausgefüllter.
Nichts dauerhaft. Nichts steht außerhalb der Zeit. Die Nichtdauer ist das erste Merkmal allen Daseins. Die einzige Sicherheit des Menschen ist die Gegenwart, sein Jetzt. Wer das Wesen der Endlichkeit begriffen, hat, für den wird die Zeit zu einem kostbaren Besitz. Er wird keinen Moment des Lebens für selbstverständlich nehmen und versuchen jeden Moment des Lebens wahrzunehmen.
Seit Menschen denken und schreiben können haben sie den Prozess der vergehenden Lebenszeit beklagt: „Eheu fugaces … labuntur anni“ – O weh, die Jahre fliehen fort (Horaz)
„Owe, war sint verswunden alliu miniu jâr?“ (Walther von der Vogelweide)
Jorge Luis Borges hat kurz vor seinem Tod das Wesentliche so zusammengefasst:
„Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, im nächsten Leben, würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen. Ich würde nicht so perfekt sein wollen, ich würde mich mehr entspannen. Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin, ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen. Ich würde mehr riskieren, würde mehr reisen, Sonnenuntergänge betrachten, mehr bergsteigen, mehr in Flüssen schwimmen. (…) Wenn ich noch einmal anfangen könnte, würde ich versuchen, nur mehr gute Augenblicke zu haben. Falls du es noch nicht weißt, aus diesen besteht nämlich das Leben. Nur aus Augenblicken; vergiss nicht den jetzigen.“