Ein Mann wird schwer krank. Er hatte schon länger festgestellt, dass etwas nicht stimmt. Erst spät geht er zum Arzt. Der kann über mehrere Wochen keinen richtigen Schluss aus den Symptomen ziehen – was den kritischen Z(w)eitgeist einmal mehr wundert, da selbst ihm als medizinisch interessierten Hypochonder ein Symptomzusammenhang mit der dann letztlich diagnostizierten tückischen Krankheit bekannt ist. Doch darüber wollen wir nicht streiten.
Krankheit kann nach heutigem Kenntnisstand der inneren Medizin nur durch Chemotherapien ggf. geheilt werden. Es gibt unterschiedlich aggressive Varianten dieser Krankheit. Er hat die schlimmste. Die Heilungschancen betragen angeblich gleichwohl ca. 50%.
Der Mann willigt ein. Die erste Chemotherapie übersteht er „verhältnismäßig“ gut. Über die auftretenden Nebenwirkung wollen wir hier nicht berichten. Nun folgt nach einer kurzen Pause die zweite von drei geplanten Chemotherapien. Sollten alle drei das Übel nicht beseitigen können, käme als letzte Rettung noch eine Stammzellentherapie in Frage.
Doch soweit kommt es nicht. Gegen Ende der zweiten Chemotherapie entsteht plötzlich ein „multiples Organversagen“ – eine nicht einmal seltene Komplikation bei dieser Behandlung. Vermutlich steht die im Kleingedruckten als mögliches Risiko beschrieben. Die Intensivmedizin tritt auf den Plan. Der Mann wird in ein künstliches Koma versetzt und künstlich am Leben erhalten. Wochenlang. Zwischendurch ist es immer wieder sehr kritisch. Die durch die Chemie attakierten Organe erholen sich ein wenig. Nur der Darm nimmt irreparablen Schaden. In einer Notoperation wird einige Wochen später der Dickdarm entfernt, künstlicher Ausgang. Der Laie wundert sich, dass ein bereits derart traktierter und geschwächter Mensch so eine Operation überhaupt überlebt.
Der weitere Ausgang ist wochenlang ungewiss, denn – nicht vegessen – die ursprüngliche Krankheit ist ja noch lange nicht besiegt. Doch kann so ein Rest Leben überhaupt noch eine weitere Chemotherapie ertragen?
Es ist auch nicht der Mann an sich, der im Zentrum unserer heutigen Betrachtung steht. Es geht uns auch nicht um der Ärzte Kunst oder deren Kunstfehler. Vielmehr interessiert uns die folgende Frage:
Der Mann hat eine Patientenverfügung, in der er festgehalten hat, dass er nicht künstlich am Leben gehalten werden will im Falle eines Falles. Doch nun tritt hier seine Schwester auf den Plan, die sich fest vorgenommen hat, ihren Bruder nicht so einfach sterben zu lassen. Sie bespricht und veranlasst die Behandlung mit den Ärzten ab dem Moment, wo der Bruder komatiert.
Der kritische Z(w)eitgeist fragt sich nun, ob es richtig ist, was die Schwester tut. De jure handelt sie gegen den erklärten und schriftlichen niedergelegten Willen des Bruders. Dieser kann dadurch nicht „in Frieden“ sterben.
Und in der Tat stirbt der Bruder an der Krankheit bzw. nun wohl den Folgen der Behandlung. Ein knappes halbes Jahr hat er in Krankenhaus verbracht, meist unter großen Torturen. Wir fragen uns ohne je zu werten: Hätte die Schwester sich in dieser Weise einmischen dürfen?