Bei der Eucharistie , zu deutsch das Abendmahl, scheiden sich nicht nur die Geister der Liturgie katholischer und evangelischer Provenienz, sondern auch mancher Zeitgeist gerät ins Grübeln.
Schon lange nehmen Christen selbst Anstoß an der Vorstellung, Christi Fleisch zu essen und Blut zu trinken. Und in der Tat offenbart der christliche Glaube auch hier einmal mehr seine archaischen Wurzeln. Handelt es sich um einen idealisierten Akt des Nekrophagie (so bezeichnet man den Verzehr von Leichenteilen)?
Je älter ich werde und mich mit erkenntsnistheoretischen Fragen beschäftige, desto mehr gruselt es mir vor der christlichen Heilslehre. Schon immer war mir das allerorten aufgehängte und zelebrierte Sinnbild des gemarterten Jesus Christus ein Dorn im Auge. Besonders Kinder, so scheint mir, müssen sich vor diesem Insignium christlichen Glaubens schrecklich fürchten.
Wie gerufen kommt da die SZ mit der Rezension Friedrich Wilhelm Grafs des Buches „Jesu Trauma. Psychoanalyse des Neuen Testaments“ des Autors Christoph Türcke. Türcke unterwirft das Neue Testament in seinem neuen Buch einer Psychoanalyse und erkennt in Jesus den ersten „Immoralisten“.
Seit gut 200 Jahren arbeitet sich die Wissenschaft vom Neuen Testament an der Grundunterscheidung von geschichtlichen Individuum Jesus von Nazareth und verkündigten Christus der urchristlichen Gemeinde ab.
Die Crux: Es gibt faktisch keine nichtchristlichen Jesus-Zeugnisse. Die einzigen Quellen über das Leben des Juden Jesus sind frühchristliche Texte, allen voran die Evangelien und Briefe des Neuen Testaments. Zwar weiß man um die „fromme Flunkerei“ in den Evangelien, die Leben und Werk Jesu von vornherein auf die Auferstehung zulaufen ließen. Aber neben „höchst dubiosen“ frühchristlichen Quellen und neben „viel fabulieren, fingieren und erfinden“ entdeckt Türcke auch „Begebenheiten aus dem wirklichen Leben Jesu“.
Jesus, uneheliches Kind der mit Joseph verheirateten Maria, sei religiös entscheidend von Johannes dem Täufer geprägt worden. Im Unterschied zum Täufer habe er jedoch über Heilkräfte bei psychogenen Krankheiten verfügt, die „weggesprochen“ werden konnten. Dies habe zu Konflikten mit Johannes dem Täufer geführt, der seinen Lieblingsjünger verstoßen und in die Wüste vertrieben habe. Jesus habe diese Kränkung durch das glaubensväterliche Über-Ich Johannes nicht verkraftet und deshalb die Besessenheit vom Reiche Gottes, die er dem Täufer verdankte, gegen ihn gekehrt.
Christoph Türcke, Jahrgang 1948, ist Professor für Philosophie in Leipzig. Seine Dekonstruktion Jesu als Gottessohn führt zu einer überraschenden Aufwertung eines menschlich durchaus ergreifenden Schicksals und gewinnt auch angesichts des nahenden Weihnachtsfests Aktualität.