Rollende „Tante Emma“ im Rutental

Das Forsthaus Heiligenberg hat unerwartet eine „Geschlossene Gesellschaft“, wie es so schön antiquiert und kalt im Deutschen heißt. Hier wird wohl stilvoll Hochzeit gefeiert. Die beiden hungrigen Wanderer am Heiligenberg in Bruchhausen-Vilsen sind etwas enttäuscht, hatten sie sich doch auf ein schönes Essen gefreut.

Man wandert also wieder zurück, durch stille Wälder und grüne Auen. Doch da! Das geübte Auge erblickt einen weißen Lieferwagen, wie ihn besonders mobile Bäcker hier auf dem Lande fahren. Nur hundert Meter vor ihnen biegt er in eine Wohnstraße ein. Jetzt heißt es, sich zu beeilen! Und siehe da, beim Näherkommen erweist sich das Automobil gar als „Frischemobil“ (rollendes Lebensmittelverkaufsmobil) von Magdalene Lerbs, das die ländliche Bevölkerung, die inzwischen zunehmend ohne fußläufige Nahversorgung auskommen muss, mit dem Wichtigsten versorgt.

Deutschlandweit sind von einst 160.000 Dorfgeschäften im Jahre 1970 nur noch etwa ein Viertel geblieben. Bis zu acht Millionen Bürger auf dem Land gelten als ‚unterversorgt‘. Stattdessen nur noch großflächige, seelenlose Discounter auf der nur mit Auto zu erreichenden „grünen Wiese“. Die physische Unterversorgung ist dabei ähnlich groß wie die seelische. Doch eine Gegenbewegung genossenschaftliche Charakters ist im Gange.

Ein älterer Herr steht mit einem Einkaufskorb vor der Tür des Verkaufswagens und gibt dessen Fahrerin seine Bestellungen auf. Nein, eintreten mag er nicht, obwohl der Lieferwagen dafür konzipiert ist: Ein Supermarkt mit Regalen ringsum, alle vollgestopft mit den Waren des täglichen Bedarfs. Die Wanderer staunen über die unerwartete Produktvielfalt; der Stammkunde kauft vor allem Bier. Wie, Fleischwaren gibt es auch? Das wusste er, der aus Sudweyhe hierher ins Rutental zugezogen ist, noch gar nicht. Frische Fleischwaren kaufe er lieber beim Schlachter als in Plastik abgepackt, sagt er.

Die Verkäuferin hat durchaus Zeit für einen Plausch, vielleicht die einzige Begegnung des älteren Herren mit einem anderen Menschen an diesem Tage in dieser verlassenen Gegend. Die beiden Wanderer bekommen zur Stärkung nicht nur frischen Butterkuchen, den die Verkäuferin vorsorglich schon mal in mundgerechte Stücke schneidet, sondern auch wichtige Hinweise für die Wanderstrecke – den kleinen Weg links ins wildromantische Rutental hätten sie sonst gewiss übersehen.

Man verabschiedet sich freundlich, die Wanderer biegen ab in den versteckten Pfad ins Rutental, die Fahrerin schließt die Ladentür und fährt zum nächsten Kunden. Der alte Herr winkt den beiden Wanderern zum Abschied hinterher.

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