Über das Warten

Vielfach besteht das menschliche Leben aus Warten: Auf die Zeit bis zur Geburt, zur Einschulung, zum Schulabschluss, zur Hochzeit, zur Pensionierung und letztlich dann auf den Tod. Zwischendurch wartet man auf die Liebste, aufs Essen, auf den Zug, auf das Gehalt, auf den Postboten, auf die heimkehrenden Kinder.

Über 3000 Stunden wartet der moderne Mensch im Laufe seines Lebens vor roten Ampeln und mehr als 2000 Stunden sucht er nach Schlüsseln. Sobald Menschen mehr als 90 Sekunden warten müssen, wird ihr Zeitgefühl verzerrt. Die abgelaufene Zeit wird als länger empfunden – Warten wird als verlorene Zeit begriffen. Etwas anderes „wartet“ bereits. Zeit verrinnt ohne nachweisbares, praktisches Ergebnis. Warten bedeutet Energieverlust.

Das Diktat der Uhr lässt kein fruchtbares Warten zu. Warten ist nämlich immer dann ein Störfaktor, wenn Zeit mit Geld verrechnet wird, wenn also die „Logik der knappen Zeit“ gilt. Wartezeiten verursachen demnach Kosten, weil in der gleichen Zeit andere Chancen hätten wahrgenommen werden können. Deshalb gilt Warten als unproduktiv.

Einst war Warten keine verlorene Zeit, sondern eine gewonnene. Warten bedeutete „verweilen, sorgen, bewahren, schützen“, so wie es noch gelegentlich bei der „Wartung“ unseres Automobils vorkommt – sofern diese nicht schon „Inspektion“, „Service“ oder gar „Dialogannahme“ heißt.

Die „Warte“ war ein turmartiger Bau auf Anhöhen mit guter Rundumsicht, von der aus man anrückende Feinde frühzeitig sehen und die Bevölkerung warnen konnte. Mit dieser Information gewann man Zeit zur Flucht oder zur Vorbereitung von Gegenmaßnahmen. Man muss warten können, um im richtigen Moment schnell handeln zu können.

Wer warten kann, hat Zeit. Alle anderen haben einen Terminkalender. Warten können, bedeutet auch Zeit zu haben. Warten ist eine Zeit, die nicht unter dem Druck steht, zu raschen Resultaten kommen zu müssen. Wer etwas ernten will, der muss warten können. „Wer nicht warten kann, bis ihn dürstet, wird am Trinken kein Vergnügen finden.“ (Montaigne).

In Wirklichkeit warten wir alle. Wir warten auf das große Glück. Ohne diese Aussicht wäre das Leben unerträglich. Dabei wird das Warten zum Teil der Glückserfahrung. Und vielleicht erweist sich der Weg als das Ziel. Zeit kann eben nicht nur aktiv gestaltet, sondern muss auch erlitten werden – und das ruft bei manchem das Unbehagen an der Uhrzeit hervor.

P.S.: Wer als Fußgänger eine Straße überqueren will, kann auf den Ampelknopf drücken. Dieser hat oftmals zwar gar keine Funktion, doch der Glaube an einen Einfluss auf die Signalsteuerung lässt die Warterei besser ertragen – manche drücken auch zwei Mal, das hilft noch mehr.

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