Endlose Freiheit – ohne Sendeschluss

Netzwerkpartner Karlheinz A. Geißler hat bereits vor Jahren über das Ende des Sendeschlusses im deutschen Fernsehen nachgedacht. Die Heutigen wissen gar nicht mehr, dass einst gegen 23:00 Uhr, spätestens jedoch ab Mitternacht Schluss war mit dem TV-Konsum. Dann wurde das deutsche Volk kollektiv ins Bett geschickt, damit es am folgenden Tag ausgeruht das Bruttosozialprodukt weiter steigern konnte. Zum krönenden Abschluss wurde die Nationalhymne abgespielt, danach erschien ggf. noch kurz das „Testbild“ und schließlich war da nur noch Rauschen.

„Endlich, endlich haben wir sie – die endlose Freiheit. Sie wird, so gehört sich das ja auch in einer Mediengesellschaft, von den Sendeanstalten frei Haus geliefert. Das Fernsehen nämlich macht keinen Schluss mehr mit uns. Es ist ein Genuss, endlich Schluss mit dem Schluss! Die Zuschauer dürfen mit dem Fernsehen selbst Schluss machen, und das tagein, tagaus. Die Programmmacher aber wollen gar nicht, dass sie Schluss machen, sie wünschen sich Zuseher, die immerzu „dran bleiben“.

Als begrüßenswerten Schritt hin zum paradiesischen Zustand der Endlosigkeit, hatten die Fernsehverantwortlichen den Start des Nonstop-Programms angepriesen. Der Zeitpunkt war wohlkalkuliert. Trunken von den Freiheitsparolen ostdeutscher Montagsdemonstrierer und dem Wunsch nach einem gesamtdeutschen Befreiungserlebnis, hat sich das fernsehsüchtige Volk („Wir sind das Fernsehvolk!“) bereitwillig der televisionären Offerte angeschlossen. Im Rückblick aber – einige Jahre nach der Befreiung von der DDR und dem Sendeschluss, drängt sich die zur bittere Erkenntnis auf, dass Freiheiten anscheinend nur dann und dort attraktiv und vielversprechend sind, wo sie nicht Wirklichkeit werden. Die Deutschen im Osten der Republik durften das zweimal erleben, beim Fall der Mauer und beim Fall des Sendeschlusses, die Westdeutschen einmal, beim letzterem.

Heute wissen und erfahren wir, dass das televisionäre Freiheitsversprechen des televisionären Nonstop-Angebots aus wenig mehr als einer belastungs- und entscheidungsintensiven Delegation von Trennungsarbeit besteht. Nicht etwa die Medienkonsumenten wurden dabei befreit, es sind die Fernsehproduzenten und die Sendeanstalten, die sich von den letzten Resten vorhandener Endlichkeitsdemut und von der Zumutung, einige Nachtstunden ohne Aufmerksamkeit auskommen zu müssen, entlastet haben. Ohne Innehalten, ohne Anfang, ohne Ende liefern die Fernsehstationen jetzt ihre flachen und billigen Geschichten, die sie irrtümlich für Geschichte halten. Dies mit der lästigen Konsequenz, dass jener Fernsehzuschauer unentwegt mit der Frage beschäftigt ist: „Wann soll ich mit dem Glotzen anfangen, wann soll ich mit ihm aufhören?“ Und immer häufiger spürt er, dass er zu Anfang bereits am Ende ist.

Immer aber macht man zu früh Schluss. Auch, weil Moderatoren und Moderatorinnen kein Ende mehr ankündigen, dafür um so penetranter fordern, doch bitte „dran zu bleiben.“ Ohne zeitliche Einfriedung, ohne Markierungspunkte torkelt man durchs Fernsehprogramm und sucht unentwegt den Absprung. Beginnlose Endlosigkeit, das zumindest kann man neuerdings am eigenen Leib erfahren. Es ist das Gegenteil von sehnlichst erhoffter irdischer Zeitlosigkeit. Der Eintritt in die Welt des Nonstop ist die Verurteilung zur Höchststrafe. Lebenslang und ununterbrochen muss über Zeit geredet, immerzu über sie entschieden werden. Der penetrante Zwang zum endlosen Zeitmanagement macht die Menschen ausnahmslos zu Buchhaltern ihrer Lebenszeit.

Bis vor nicht allzu langer Zeit wurden die kraftlosen, ablenkungsbedürftigen Seher und Seherinnen, die sich von dem Schirm Erholung und Entspannung von ihrem hektischen Arbeitsalltag versprachen, durch den Sendeschluss von der Antwort auf die Frage entlastet: „Wann gehe ich heute ins Bett?“ Auch waren sie von der Angst befreit, möglicherweise etwas Wichtiges zu versäumen. Stimmungsvolle Sendeschlüsse mit zuweilen seltsamen Zeremonien des Abschieds, entlasteten die müden Zuschauer von der Rechtfertigungspflicht, ihren Familienangehörigen begründen zu müssen, warum sie bereits zu einem so frühen Zeitpunkt ins Schlafzimmer verschwinden. „Was, Du gehst schon?“ „Warum denn schon jetzt?“ Der Sendeschluss war ein allseits akzeptierter Grund, sich vor Mitternacht bereits ins Bett zurückziehen zu dürfen. Heute steigt der Zwang zu später Stunde, sich im unübersichtlichen Supermarkt der Ausreden selbst bedienen zu müssen. Dies dann meist auch noch zu einem Zeitpunkt, in dem ein Erschöpfungszustand nur mehr schwache Argumente zulässt. So verdrückt man sich mit schlechtem Gewissen, murmelt etwas von der Notwendigkeit, am nächsten Morgen früh aufstehen zu müssen, und ergreift die Flucht vor den nicht allzu amüsanten Kommentaren derjenigen, die weiterhin in die Glotze blicken. Und dieser Zustand soll uns freier machen? Die Antwort gibt der Schlaf.

(…)

Die Endlosigkeit kennt nur mehr das ununterbrochene Unterwegssein, das sinnlose Rennen und Hasten. Wer Neues anfangen will, muss aber dafür sorgen, dass vorher etwas beendet wurde. Das Immer-weitermachen führt letztlich nur tiefer in eine belästigende und erschöpfende Ruhelosigkeit hinein. Zumindest das ist den Fernsehprogrammen heute anzusehen. Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde!

Aus: Kh. A. Geißler: Schlusssituationen. Die Suche nach dem guten Ende. 4 Auflage, Weinheim 2005

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