Sicher erinnern sich noch sehr viele an den Entführungsfall des elfjährigen Jakob von Metzler. Schon damals erregten sich die Gemüter über den Vorgang (was eigentlich bei jedem schweren Verbrechen unvermeidlich ist – zumal, wenn es sich um Kindesentführung/ – mord/ – vergewaltigung etc. handelt).
Mich schockiert immer auch das Verhalten der Täter, die stets so tun, als wären sie die Opfer. Bloß nicht fest anpacken oder scharf ansprechen, sie sind doch so sensibel. So auch in dem Fall des Markus Gäfgen. Sehr schnell wurden dann die Kommentare der Folterandrohung laut und plötzlich wurde die Polizei an den Pranger gestellt. Für mich völlig unverständlich; denn dem Täter ist nichts passiert, ihm wurde etwas angedroht, um endlich das Kind retten zu können. Genau dieser Punkt hat doch wohl oberste Priorität.
Nun kommt die ganze Geschichte wieder hoch und dem Mörder wird ein Schmerzensgeld zugestanden. Ihm ist Unrecht geschehen und per Gesetz müssen Gewaltverbrecher mit „Samthandschuhen“ angefasst werden. Herr Gäfgen leidet unter schlaflosen Nächten weil ihm Folter angedroht wurde. Der arme Mörder hatte Angst um sein Leben, und dieser Gedanke verfolgt ihn noch heute.
Hier wird doch wohl die Gerechtigkeit mit Füßen getreten und die Welt auf den Kopf gestellt. Der Täter wird zum wiederholten Male durch unsere Justiz zum bemitleidenswerten Opfer gemacht. Was kümmern einen dabei die schlaflosen Nächte der Eltern und des Kindes (mit Sicherheit auch der Polizeibeamten, die das Kind retten wollten)? Was kümmert einen die Angst von Eltern und Kind? Wen kümmert es, dass das Leben der Familie mit einem Schlag aus den Fugen geraten ist und nie wieder normal werden kann? Das ist völlig unerheblich und steht nicht zur Diskussion. Hier geht es um die Angst des Täters. Mit diesem Urteil werden die Eltern noch einmal bestraft.
Damit ich nicht falsch verstanden werde, es geht nicht darum, dass die Exekutive mit den Tätern machen darf was sie will (auch diese Bilder sind bekannt – wir sehen sie zur Zeit fast täglich in den Medien – und auch unsere eigene Geschichte ist voll davon). Nur, hier ist dem Entführer ein Szenario geschildert worden, um endlich die Wahrheit zu erfahren und ein Kind zu retten.
Man stelle sich doch nur die Situation vor: Die Polizei wird von dem Täter der Lächerlichkeit preis gegeben, ständig belogen und an der Nase herum geführt – immer mit der Angst im Nacken, dass das Kind irgendwo stirbt, weil die Zeit davon läuft und der Mörder mit ihnen seine Spielchen treibt. Welche Möglichkeiten bleiben denn da noch, um endlich die Wahrheit zu erfahren und die furchtbare Aktion zu einem glücklichen Ende zu bringen? Theoretiker und Bürokraten sind da schnell mit Vorwürfen bei der Hand und es heißt sofort: Man muss mit den Leuten reden – und es gibt doch noch andere Mittel – ja bitte, welche denn?
Nein, hier setzt die Justiz mE ein völlig falsches Signal, und auch Richter sollten sich Gedanken machen um die Urteile, die sie fällen. Es mag ja sein, dass die Gesetze so sind (dann sind sie zu revidieren); doch das Urteil ist haarsträubend und nicht gerecht. Es steht ja nichts dagegen zu sagen, dass die Androhung mit unserem Rechtssystem nicht zu vereinbaren ist und zu unterbleiben hat; doch in Anbetracht der Schwere der Straftat kann einem Mörder keine Entschädigung und damit keine Genugtuung gewährt werden.
Wer soll denn bitte so eine Rechtsprechung verstehen? Die Polizei ist zur Tatenlosigkeit verurteilt. Jeder neue Fall heißt für die Opfer „Exodus“; denn jeder Hilfsmaßnahme sind die Hände gebunden. Bitte geht mit den Tätern pfleglich um, damit ihnen ja kein Haar gekrümmt werde und auch seine Psyche keinen Schaden nimmt.
Halten wir uns doch nur das wahnsinnige Verbrechen von Oslo noch einmal vor Augen. Da sitzt der Massenmörder lächelnd im Polizeiwagen. Sehr schnell erkennt er, dass seine Tat vorbei ist und die Polizei ihm keine Chance mehr lässt. Er wirft alles von sich und hebt die Hände zur Aufgabe: Tut mir ja nichts ich bin ja so empfindlich und ängstlich – jetzt hätte sich in der Hektik noch ein Schuss gelöst und den Mörder verletzt – oder einem Polizisten wäre bei dem Anblick der unzähligen Leichen vor lauter Wut die Hand ausgerutscht und er hätte den Mörder mit einem Faustschlag zu Boden gestreckt? Der Mörder beschwert sich, weil ihm Unrecht geschehen ist. Er wurde verletzt, obschon er sich doch ergeben hat. Es kommt zum Prozess und der Polizei wird plötzlich per Gericht die Unverhältnismäßigkeit ihrer Mittel vorgeworfen.
Es ist müßig, die Geschichte weiter auszumalen. Fakt ist, das dieses Urteil ein Schlag ins Gesicht für alle Opfer ist und die Gerechtigkeit damit auf den Kopf gestellt wurde. Ich bin wahrlich froh, dass ich mich nicht für den Beruf eines Polizisten entschieden habe; denn immer wieder als Marionette auf die Straße geschickt zu werden, die nur einstecken darf, kann niemanden zufrieden stellen und ist auf die Dauer nur noch frustrierend.
Seit einiger Zeit besuche ich in unregelmäßigen Abständen den Blog „Z(w)eitgeist“ von Karl-Heinz Heidtmann. Immer wurde ich gut unterhalten, zumal sich Information und Amüsement gut ergänzten.
Doch dann las ich den Text des Herrn Kleindiek unter der Überschrift „Menschenwürde für Mörder?“. Oh ha, dachte ich, ist das Satire, Provokation oder wohl möglich doch ehrliche Meinung? Es scheint mir eine ernsthafte Äußerung zu sein – und die darf so nicht unwidersprochen bleiben.
Die titelgebende Frage über dem Artikel lautet also: Menschenwürde für Mörder? Die ganz klare und einfache Antwort darauf kann nur lauten : ja sicher!
Dass der Mörder Gäfgen eine Klage wegen erlittenen seelischen Unrechts erhoben hat, ist angesichts seiner außergewöhnlich kaltblütigen und grausamen Tat kaum nachzuvollziehen und nur schwerlich zu ertragen. Ok. Aber seine Klage ist rechtens und ihr wurde entsprochen. Dieser Casus hat nichts mit der Tat des Mörders zu tun. Für seine Tat – Kindesentführung, Erpressung, Mord – ist Gäfgen zu lebenslangem Zuchthaus rechtskräftig verurteilt worden. In dem akuten Fall geht es aber um die Tat des Staates an Gäfgen, nämlich um die Anwendung oder Androhung von Folter. Beide Fälle sind klar voneinander zu trennen.
Entsprechend internationalem Recht gilt in Deutschland das Verbot der Folter. Das steht auch so im Grundgesetz. Gegen dieses Gesetz hat der Staat bei den Ermittlungen gegen den Mordverdächtigen Gäfgen eindeutig und zweifelsfrei verstoßen. Dafür ist Deutschland vom europäischen Gerichtshof verurteilt worden. Die verantwortlichen Polizeibeamten sind gemäß den entsprechenden Paragraphen von einem deutschen Gericht verurteilt worden. Und daraus ergibt sich für Gäfgen automatisch seine Forderung nach Entschädigung wegen erlittenen Unrechts. Punktum.
Ihr Argument: Gäfgen ist Folter nur angedroht worden. Gegenargument: Die Drohung mit Folter ist der ausgeführten Folter gleichzusetzen, weil der Gefangene von der tatsächlichen Ausführung zwingend ausgehen muss, da sonst jedwede Folter nur eine leere Drohung wäre.
Ihr polemisches Argument: Per Gesetz müssen Gewaltverbrecher in Deutschland mit Samthandschuhen angefasst werden, da sie ansonsten wegen schlafloser Nächte Schmerzensgeld erhalten. Sachliches Gegenargument: Das Gericht hat Gäfgen ausdrücklich kein! Schmerzensgeld zugestanden. Es wurde explizit vom Gericht ausgeführt, dass nach Auffassung des Gerichtes eventuelle seelisch psychische Beeinträchtigungen Gäfgens eher seiner Tat als der angedrohten Folter geschuldet seien. Dementsprechend wurde nur Entschädigung wegen erlittenen Unrechts zugestanden.
Ihr Argument: Die Eltern u. Angehörigen werden durch das Urteil erneut bestraft. Gegenargument: Der berechtigten Forderung nach Genugtuung der Eltern wurde mit dem Urteil auf lebenslange Haft entsprochen. Die Eltern des Kindes sind vom Rechtsstreit Gäfgen gegen Polizei nicht betroffen.
Ihr Argument: Die Polizei ist zur Tatenlosigkeit verurteilt bei dieser Rechtssprechung. Gegenargument: Die Polizei ist dringlichst verpflichtet, sich an Recht und Gesetz bei ihren Ermittlungen zu halten. Täte sie das ohne Konsequenzen nicht, hätten wir über kurz oder lang einen Polizeistaat und keinen Rechtsstaat mehr. Will das jemand?
Ihr Argument: Die Tat des Gäfgen ist so abscheulich, dass eine Entschädigung nur als ungerecht und gegen das gesunde Rechtsempfinden gerichtet angesehen werden kann. Gegenargument: Recht darf nie in seiner Anwendung von Emotionen abhängig sein. Unser Rechtsstaat ist gerade dann stark, wenn jemand auf sein Recht pocht, der sich selbst daran vergangen hat. Auch ein Widerling hat Anspruch auf die Einhaltung des Rechtes im Rechtsstaat. Wenn man nicht nach Rechtslage, sondern nach Gefühlslage mit Verbrechern umgeht, nennt man das Lynchjustiz. Will das jemand?
Abschließend ein Zitat aus der Urteilsbegründung: „ Das Recht auf Achtung seiner Würde kann auch dem Straftäter nicht abgesprochen werden, mag er sich auch in noch so schwerer und unerträglicher Weise gegen die Werteordnung der Verfassung vergangen haben.“
Damit ist klar und auch Sie, Herr Kleindiek, sollten bei angemessener Besinnung auf die so hohen Werte unserer Gesellschaft erkennen: Menschenwürde für Mörder? Selbstverständlich.
MfG E.B.
Lieber Everhart,
mir war klar, dass der Beitrag meines Freudes HWK polarisieren würde.
Das Thema ist heikel. Ich wüsste jedoch selber nicht, was ich mit dem Kerl machen würde, wenn der mein Kind irgendwo entführt und eingesperrt hätte. Ich glaube, wenn die Exekutive da nicht weiterkäme, würde ich dem auch drohen.
Und es macht mE noch einen Unterschied, jemandem Gewalt anzudrohen oder Gewalt anzutun. Das ist in etwa vergleichbar mit einem „Letter of intent“ …
Gewiss, auch ich halte viel von Recht und Gesetz, weil der Mensch sonst über den Menschen herfallen würde. Andererseits nimmt sich das Gesetz selber das Recht, andere – wenn es sein muss – auch zu töten, Stichwort „Gewaltmonopol“ oder „putative Notwehr“ (Herr Kurras) oder „Notstandsgesetze“. Warum nicht auch hier?
„Lynchjustiz“, das wäre in der Tat fatal.
P.S.: Gestern wurde im Radio über den Hungerstreik von Gefangenen in Celle berichtet. Die Herren fordern unter anderem „freien Zugang von Damen“. What next?
Gewiss, man darf sich zurecht fragen, ob unser Strafvollzug nicht völlig obsolet ist – irgendwie unsinnig, Menschen in Zellen einzusperren, damit zu strafen und auf „Besserung“ zu hoffen.
K.
Natürlich haben Sie Recht, Herr Bilker, das stelle ich nicht außer Frage.
In meinem BWL Studium hatten wir in Rechtskunde einen Staatsanwalt als Dozenten – wir haben immer alle Fälle falsch gelöst und er sagte (werde ich nie vergessen):
„Lassen sie ihr Bauchgefühl weg, hören sie auf zu denken – und bitte keine Emotionen! Nehmen sie nur das Gesetz und handeln danach. Da steht alles drin.
Wie ich später dann lernen musste, ist auch das häufig eine Frage der Auslegung (je nach Einstellung des Juristen; denn offensichtlich findet sich zu jedem Paragraphen immer noch andere, die dem teilweise widersprechen und andere Denkansätze ermöglichen).
Ich habe ganz klar betont, dass die Recht- und Gesetzmäßigkeit natürlich gewahrt bleiben muss. Und ich widerspreche dennoch ebenso klar: Die betroffenen Eltern wurden ein zweites Mal bestraft. Das halte ich wirklich für zynisch, dass den Eltern mit dem ersten Urteil Genugtuung widerfahren ist!
Ich behaupte, dass in jedem Menschen ein „potenzeller Mörder“ steckt, selbst in dem friedlichsten. Wenn er Familie hat und Kinder und hat bei einem brutalen Verbrechen gegen seine Familie die Möglichkeit den Täter mit Gewalt daran zu hindern, dann muss er ganz einfach zum Mörder werden – ansonsten würde er einfach nur tatenlos zusehen, wie seine Familie ermordet wird. In einem solchen Fall kann er sich hinterher nur selber richten; denn wie soll er damit fertig werden?
Liebe Leser,
wenn einem in solchen Fällen Zweifel kommen, wie es moralisch-ethisch korrekt wäre zu handeln, und einem das Gesetz oder Gottes Gebote nicht ausreichen zur Orientierung, so schlage ich hiermit meine Philosophie vor. In meinem Werk ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ habe ich mich gefragt, wie die Menschen moralisch gut handeln können, bzw. welche Gründe den menschl. Willen bestimmen sollten. Ich suchte nicht bloß nach einer einfachen Regel, nach einer subjektiven Maxime, die nach aüßeren Zwängen bestimmt ist, sprich nach einem hypothetischen Imperativ. Nein, ich suchte nach einer Gesetzmäßigkeit. Einem moralischen Gesetz, welches unabhängig von unseren subjektiven Vermögen ist, ein unbedingtes Gesetz, ein kategorischer Imperativ.
Was unseren Willen bestimmen soll, sind nicht die Neigungen und Triebe. Uns unterscheidet vom Tier, dass unser Wille von der Vernunft bestimmt sein kann. Ein vernünftiger Wille, der unsere Handlungen bestimmen kann. Jedem ist es also möglich (=die Idee der Freiheit des Menschen) sich einer solchen Willensbestimmung selbst zu unterziehen. Das bedeutet, eine Einsicht in die Pflicht nach dem moralischen Gesetz zu handeln.
Der kategorische Imperativ von mir lautet:
Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.
Dieses moralische Gesetz ist ebenso ein Prüfverfahren, bei dem Handlungen auf ihre Moralität bestimmt werden. Die Handlung, jemanden zu foltern, um … etwas zu bezwecken, ist schon auf der formalen Ebene des kat. Imp. gescheitert, da, wenn man es auf die Allgemeinheit übertragen würde, jeder jeden foltern dürfe, um etwas zu bezwecken.
Eine weitere Maxime Kants lautet:
Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden anderen zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.
Des Menschen Würde (eines jeden!, ich zählte als einer der 1. Philosophen ebenfalls Sklaven und Behinderte mit dazu) besteht darin, dass er unter allen Umständen Selbstzweck bleibt und von niemandem als Mittel zum Zweck gebraucht wird. Wonach Herr … sein oder anderes Handeln zu beurteilen scheint, ist auschließlich nach Gefühlen für seine Vorstellung von Gerechtigkeit. Nun ist dieses Gefühl ein sehr subjektives und von jedem auf der Welt als anders empfunden und kann niemals allgemeingültig sein. Für ihn überwiegt die grausame Tat des Täters und lässt entschuldigen, dass etwas moralisch verwerfliches passiert, nämlich einen Menschen als Mittel zum Zweck zu gebrauchen. Nein, hier wird sich ausschließlich auf Subjektivität berufen und dann auch noch beschwert, dass der Rechtsstaat dies nicht genauso tue.
Ps wenn in jedem ein Mörder stecke (was zu beweisen wäre), wäre es doch umso notwendiger, dass einem dieser Trieb durch einen vernunftgeleiteten Willen (ein moralisches Gesetz) untersagt bliebe. Wenn es keine unvernünftigen Bedingungen des Willens gäbe, bräuchten wir schließlich keinen vernünftig bestimmten Willen bzw. Gesetzmäßigkeiten. Für den Staat, der ja für das Recht einsteht, gilt dies natürlich ebenso.
I. Kant
Lieber Everhart,
ganz vielen Dank für Deine umfassende Replik!
Ich habe mich vor einiger Zeit gefragt, ob Kant heute noch gültig sein kann.
Das Ergebnis meines Nachdenkens findest Du hier:
http://www.zweitgeist.net/2011/03/kants-kategorischer-imperativ/
Auch die Ergebnisse der Neurobiologie lassen inzwischen Zweifel aufkommen an der Willensfreiheit – und damit mE Vernunft – des Menschen. Und – zugegeben – habe ich immer mehr Zweifel am „vernünftigen“ Handel von Menschen. Den Streit zwischen Groß- und Kleinhirn gewinnt doch (zu) oft das Letztere.
K.
Lieber Herr Heidtmann,
dieser Kritik, sowohl die der Neurobiologie als auch die der Zweifel am kategorischen Imperativ, musste ich mich in den letzten Jahrhunderten stets unterziehen. Auch Hegel kritisierte genau dies an meiner Philosophie, was Sie in Ihrem Block ausführten.
Ich werde Ihnen zu späterer Stunde erklären, was ich entgegen zu bringen habe und warum ich überzeugt bin, dass der kategorische Imperativ und meine Philosophie noch heute und schon immer Gültigkeit haben.
Um Missverständnisse auszuräumen, muss ich noch erwähnen, dass ich nicht E. Bilker bin.
I. Kant
Aah, also wieder so ein Fall für die Kollegen von der psychatrischen Ambulanz! 😉
Lieber Karl-Heinz !
Ich wollt, ich wäre so brilliant und eloquent wie der Herr Kant.
Um die Ambulanz zu meiden, muss ich aber bestätigen, dass ich, in diesem Falle leider, nicht der Herr I. Kant sondern einfach nur E. Bilker bin und somit auch nicht der Verfasser des von ihm unterzeichneten Textes.
In der gebotenen Kürze nur so viel, dass die Vermischung der gebotenen Vernunft mit persönlicher Emotion stets zu Lasten einer weisen Entscheidung gehen wird.
Dass dieses Thema aber zu fast endlosen Diskussionen führen kann, wirst Du genauso wissen wie ich und erst recht der Herr Kant. Das hab ich so ja nicht gewollt.
E.
Lieber Everhart,
jetzt werde ich als Administrator schnell noch ein Smiley hinter meine letzte Ausführung zaubern, damit der humorige Anteil auch durchkommt.
K.
Liebe Leser,
wie versprochen lässt ein Kant Kritik seines kategorischen Imperativs nicht länger auf sich sitzen. 🙂
Die Kritik an meinem philosophischen Grundsatz ist oftmals lediglich ein Missverständnis. Mein kategorischer Imperativ (Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne) wird häufig – und so auch hier – mit der sogenannten ‚Goldenen Regel‘ (Was du nicht willst, was man dir tut, das füg´ auch keinem anderen zu) verwechselt. Hiermit möchte ich betonen, dass ich ebenso wie meine Kritiker diese nicht für ein moralisches Gesetz halte. Im Gegenteil, diese Regel kann den Rang eines Gesetztes aus wesentlichen Gründen nie für sich beanspruchen. „Was du nicht willst, was man dir tut (…)“: in diesem Teil des Satzes stecken die Gegensätze zu den Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um eine Gesetzmäßigkeit zu formulieren. Er basiert nicht auf einer objektiven Grundlage und es ist von jedem subjektiv – a posteriori – also von subjektiv-sinnlichen Erfahrungen abhängig, zu entscheiden, wie er behandelt werden will und gleichzeitig, wie seine Mitmenschen behandelt werden wollen. Also schließt man bei der Goldenen Regel von seinem eigenen, a posteriori bestimmten Willen auf eine Allgemeinheit! Dies ist ein logischer Fehlschluss.
Außerdem wird das menschliche Handeln von etwas bedingt, zu etwas in Abhängigkeit gesetzt. Der Wille ist somit von einer Materie abhängig, von einem Zweck, welcher nicht der bloßen Form (dem Selbstzweck) dient. Wie ein Mensch handeln soll, wird dadurch bedingt, wie er im Gegenzug von anderen behandelt werden möchte. Dies hat nichts zu tun mit Moralität, dies ist eine richtige Beobachtung meiner Kritiker. Ich hingegen sage mit meiner Moralphilosophie all das nicht aus. Im Gegenteil. Meiner Philosophie kommt es vor allem auf die Prinzipien des Willens an. Was sollte meinen Willen bestimmen, damit ich moralisch gut handeln kann? Maximen gehören auf den Prüfstand. Hegel warf mir genau das vor: dass der kat. Imperativ „inhaltsloser Formalismus“ sei, dass kein Widerspruch möglich sei, wenn man seine Maxime überprüfe. Denn wenn es mir gefiele geschlagen zu werden, dürfe ich selbst auch andere schlagen. Dem ist entgegen zu bringen, dass der kat. Imp. (im Gegensatz zur Goldenen Regel) nicht nur formale Voraussetzungen einer allg. moralischen Gesetzgebung erfüllt (siehe auch mein 1. Beitrag.), sondern sehr wohl einen sog. Inhalt besitzt, an dem jeder mit seinen Maximen scheitern kann und seinen Bestimmungsgrund des Willens, d.h. seine Handlungen überpfrüfen kann.
Dieser Inhalt besteht aus einer unbedingten Idee. Diese kann nur von der Vernunft gedacht, denn sie ist nicht empirisch vorfindlich. Dies ist die Idee von der Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit der Menschen (das höchste Gut).
Die Sittlichkeit gründet in der unendlichen Vernunft und bedeutet die Negation von Bedürfnissen, durch die vernunftgeleitete Bestimmung des Willens (durch das moralische Gesetz). Die Glückseligkeit hingegen ist die Einsicht, dass der Mensch ein endliches, bedürftiges Sinneswesen ist und jeder danach strebt Glückseligkeit zu erfahren. Für alle Menschen muss die Glückseligkeit möglich sein, die freie Zweckverfolgung eines jeden muss realisierbar sein (Zweck an sich selbst). Jedoch nur in Kombination mit der Sittlichkeit. Glückseligkeit aller kann also nur ein Objekt des Willens sein, wenn das Verlangen des Einzelnen nach jeweils seiner Glückseligkeit durch Sittlichkeit eingeschränkt wird. D.h. durch die Vernunft. Ansonsten würde es keine durch eine Moral gesetzten Grenzen geben (Goldene Regel) und Menschen würden andere Menschen als Mittel zu ihrem Zwecke benutzen und dies würde wiederum nicht zu der Gewährleistung der Glückseligkeit aller Menschen führen.
Wird diese Idee bestimmend für das Handeln, nenne ich dies: Moralität.
Dass moralisches Handeln im Alltag nicht immer einhaltbar ist, beobachte ich immer wieder. Sicherlich gibt es einige subjektive, bedingte Gründe wie Rache oder Selbstschutz, die es meiner Moralität und dem vernünftigen Willen schwer machen sich durchzusetzen oder diesen gar übertünchen. Wenn man diese Handlungen allerdings bewertet, befindet man sich wieder auf einer grundsätzlichen Ebene , die für ein moralisches Miteinander wichtig ist und man sollte diese Moralität wieder als Bewertungskriterium hinzuziehen und einsehen, dass sie trotz dessen moralisch falsch waren und manchmal auch Konsequenzen unseren allgemeingültigen Grundgesetzes nach sich ziehen.
Ich hoffe, ich konnte trotz der langen Ausführung einige Missverständnisse des kat. Imp. ausräumen und die Enttäuschung über die Nichtanwendbarkeit in der Realität lindern. Vielleicht erfreut sich meine Philosophie ja jetzt wieder neuer Beliebtheit. 🙂
I. Kant
Lieber Immanuel Bilker, bzw. Everhart Kant,
ganz herzlichen Dank für diese vertiefenden Zeilen! Ich wusste gar nicht, dass Du ein so guter Kenner unseres deutschen Großphilosophen bist. Respekt!
Natürlich ist jedes Bestreben, dem Zusammenleben eine bessere Ordnung zu geben, zu begrüßen. Und in der Tat sollte der Mensch als „vernunftbegabtes“ Wesen dazu in der Lage sein. Ich befürchte nur, dass wir noch in einem Zwischenstadium unserer Evolution hängen, wo Trieb und Vernunft oft im Widerstreit stehen.
Und genau in diesem Dilemma wird auch der beklagte Polizist gestanden haben. Moralisch ist seine Drohung doch nachzuvollziehen, rechtlich war sie nicht haltbar.
Einig sind wir uns auch darin, dass der Zweck nicht zwingend die Mittel heiligen sollte. Doch was tun, wenn man vermuten kann, dass das Kind noch lebt aber möglicherweise sterben wird, wenn es nicht gefunden wird und der Täter schweigt?
Weißt Du, was die Eltern des Kindes Dir gesagt hätten, wenn Du ihnen in der Situation einer Vortrag über Kant gehalten hättest? Ich ahne es zumindest.
K.
Zunächst muss ich nochmals und nachdrücklich darauf hinweisen, dass ich mit fremden Federn geschmückt werde. Das soll nicht sein! Also : Ich bin nicht I. Kant. (Hoffentlich wird mir dieser Satz ohne Zusammenhang nicht mal vorgehalten. Dann wird’s doch noch eng.)
Ich denke, in unserer kleinen Debatte um das Gräfgen-Urteil sind die verschiedenen Standpunkte deutlich geworden.
Immer wieder wird das Argument vorgebracht, wie mein Verhalten wohl wäre, wenn die eigenen Kinder betroffen seien. Selbstverständlich gehe ich davon aus, dass ich mich dann über die Gesetzte hinwegsetzte. Und ich würde sicher meine Familie im Falle einer fundamentalen Bedrohung ohne Berücksichtigung irgendwelcher philosophischer Erkenntnisse bis auf’s Blut verteidigen. Aber ich nehme dabei genauso selbstverständlich in Kauf, mich vor dem Gesetz dafür auch verantworten zu müssen. Nichts anderes geschieht der Polizei, die ja geltendes Recht (Folter) gebrochen hat. Daraus ergibt sich dann das Entschädigungsurteil.
Es gibt in unserer Gesellschaft soviel Kritisches anzumerken – in diesem Fall bin ich froh und es beruhigt mich, dass mein Staat sein Gewaltmonopol nicht im Sinne des populären Rufes nach vermeintlicher Gerechtigkeit missbraucht, sondern mit kühlem Kopf seine Institition und damit sich selbst an die Kandare genommen hat. Wehret den Anfängen!
Für mich abschließend möchte ich mich für den fairen und freundlichen Ton in der Diskussion bedanken.
E.B.
Liebe Freunde der hohen Moral,
die obige Diskussion umkreist leider nur den Kern, ohne sich dem Zentrum zu nähern.
Hier einige Kritikpunkte der praktischen Vernunft:
Folter=Folter?
Selbstverständlich besteht ein Unterschied zwischen angedrohter Folter und praktizierter Folter, da das menschliche Gehirn (bzw. die psychischen Prozesse) gerne eine bisweilen auch irrationale Brise Hoffnung hinzufügt: würden angedrohtes und vollzogenen Parkverbot gleichgewichtig in der menschlichen Psyche wahrgenommen, gäbe es wohl keine Parksünder, die so gerne denken, wird wohl gut gehen. Gleiches gilt natürlich, wenn eine Person einem Polizisten gegenübersitzt: wenn dieser vor dem Hintergrund des bundesdeutschen Rechtsstaats Folter androht, wird ein Funken Unsicherheit aufkeimen, dass der Polizist dass ja nicht ernst meint, da es ja verboten ist. Dieser Funken Unsicherheit ist bei praktiziert Folter aufgehoben.
Das ist der Unterschied: ein deutscher Polizist kann durch bloße Androhung nie einen glaubwürdigen und äquivalenten Folterschmerz im Kopf des Deliquenten erzeugen, wie dies praktizierte Folter tut bzw. wie sich praktizierte Folter auswirken kann.
Womit wir beim nächsten Kritikpunkt sind: Was ist Folter, was ist Schmerz?
Folter ist das absichtsvolle Zufügen von Schmerzen (physisch, psychisch). Zum Teil um eine Aussage zu erhalten – muss aber nicht.
Jetzt sind gerade psychische Schmerzen schwer zu messen. Den einen freut´s den anderen tut´s weh. Also subjektiv. Kann ein Demonstrant der von der Polizei fragwürdig eingekesselt ist und den über Stunden Platzangst quält nun vor den EGMR gehen und sagen die Polizei hätte ihn gefoltert? Wird schwer.
Man denkt schnell, bei physischen Schmerzen (wie im angedrohten Fall Daschner) ist es einfacher. Aber auch hier gilt: den einen freut´s den anderen quält´s. Auch hier liegt eine (psychische) Bewertung der Schmerzwahrnehmung zu Grunde (meine Oma prüfte ihr Bügeleisen immer mit einem leicht angefeuchteten Finger auf seine Hitzeentwicklung – auch physisch vermeintlich eindeutige Schmerzen bedürfen ihrer entsprechenden Klassifikation als solche).
Wobei dies im vorliegenden Fall nebensächlich war – das Herr Daschner zur ausgeübten „Folter“ bereit war.
Aber auch diese Erläuterungen befinden sich noch auf der Umlaufbahn des Problems.
Der aufklärerische Kant (ein begeisterter Kaffeetrinker – aber dies nur nebenbei) sagte es ja bereits: wenn es zur Maxime der allgemeinen Gesetzgebung werden kann, so soll es richtig sein. Das ist in abstrakter Betrachtung richtig und bedarf der konkreten Anwendung. (Wäre Folter als allgemeines Gesetz etabliert, hätte zumindest Kant damit kein Problem),
Die Juristen im Fall Daschner haben zu Recht jurisdikativ gehandelt. In dieser Funktion, sollen sie ja (nur) die bestehenden Gesetze anwenden. Von daher ist die juristisch Betrachtung immer eher ein Puzzelspiel des in Gesetzen Manifestierten. Fehlt hier nicht der Pinselstrich auf der weißen Leinwand?
Doch wen anrufen, wenn der zu behandelnde Fall noch nicht würdig in den Gesetzen berücksichtigt wurde? Na klar, den Kant. Der gibt den ersten Hinweis. Wie sollte man also verfahren, wenn es noch gar keine Gesetze gäbe. Wenn es noch kein hessischen Polizeigesetz gäbe. Und angenommen, es gäbe täglich Entführungen dieser Art.
Anders, kantianisch gefragt: wie muss die allgemeine Richtlinie lauten, die in einem solchen Fall zukunftsrobust und moralisch sauber ist? Für alle. Wie sollen die Gesetze lauten, die dann die Juristen bepuzzeln. Das hat der Kant gefragt. Wie muss die Regel (für solche Fälle) lauten?
Und jetzt wird es moralisch, spannend: natürlich genießen alle Menschen (auch Straftäter) die Menschenrechte. Unstreitiger Grundsatz. Und der Staat muss das Leben schützen. Kollision von Grundrechten: finaler Rettungsschuß – die Beschreibung für das Töten des Täters, bevor er Menschen töten kann. Erlaubt. Warum darf die Polizei legalerweise ein Leben auslöschen – jedoch illegal nicht mit Schmerzen (zum selben Zweck) drohen? Wiegt die Tötung nicht schwerer als der subjektive Schmerz? Kurz und salopp gefragt: erschießen ja, belabern nein.
Welche allgemeine Regel kann hier greifen und zur Befriedung führen? Wahrscheinlich nur mit dezidierte Detailarbeit, ist hier zum Ziel zu kommen.
Mein Vorschlag:
ganz einfach: Täter, bei denen es ein begründeten Verdachtsmoment gibt, dass ihre Aussage Leben retten kann, dürfen erschossen werden. Ups, zu hart.
Täter, die was wissen, was Leben retten kann, dürfen bis zu 24 Stunden in Gewahrsam genommen werden. ui – ob das hilft?
Da muss noch gebohrt und geschliffen werden.
Mein Fazit:
Polizisten die in einem Dilemma zwischen „Folter“ (besser Schmerzandrohung, Schmerzausübung) und Leben retten handeln, sollten auf sichere Grundlagen gestellt werden. Im Zweifel wiegt Leben retten höher als Schmerzen zufügen.
Das ist der Kern: Darf der Staat Schmerzen zufügen, um Leben zu retten? Er tut dies täglich, nur die Definition von Schmerzen muss überarbeiten (und für die Executive verlässlich) werden. Tatsächlich ist es eine Frage, der allgemein Definition von „Schmerzen“- und nicht des objektiven Tatbestands.
Kurzum: wer hier (kantianisch) weiterbohrt, rettet im Zweifel Leben bzw. verhindert Schmerzen.
Beste Grüße aus Bad Aachen
Sicco Kopka
Werter Sicco Kopka,
vielen Dank für Ihren differenzierten und ausführlichen Beitrag! „Beste Bohne“, möchte man sagen.
Und Sie erledigen en passant den „Kategorischen Imperativ“. Sage ich ja immer, dass der unsinnig ist, doch keiner will’s verstehen.
LG
K. Heidtmann