Zeitnah

Vorsicht, da kommt der Zeitgeist um die Ecke, schon ist er ganz nah, „zeitnah“ wie man heute gerne sagt. Er sorgt für zeitnahe Information, berichtet zeitnah über Ereignisse, schaut zeitnah vorbei und verabredet sich zu einem zeitnahen Espresso doppio am Tresen der Tagesbar. Er nötigt seine Klienten, ihm stets zeitnah auf den Fersen zu bleiben und nicht mehr, wie noch einige Jahren zuvor, baldmöglichst, umgehend, sogleich oder subito. Nein, zeitnah muss das geschehen.

Doch stopp mal, zeitnah? Wirklich zeitnah? Was ist das „zeitnah,“ was heißt das? Was ist da zu tun, was zu lassen, damit man „zeitnah“ ist? An der unübertrefflichen Schönheit des Begriffs kann der inflationäre Gebrauch – oder ist’s eher ein Missbrauch? – des Wortes „zeitnah“ nicht liegen. Ebenso fehlt dem “zeitnahen“ jeglicher Anflug einer poetischen Anmutung. Warum also „zeitnah,“ warum nicht weiter baldmöglichst, aktuell oder brandheiß?

„Zeitnah,“ das ist eine wichtigtuerische Formel fürs nahe Ungefähre, genau genommen, fürs gehetzte Ungefähre. Was man nicht zuletzt an dem Sachverhalt festmachen kann, dass Zeitnah-Sager stets etwas verschwitzt aussehen. Es ist ihre Angst etwas zu verpassen – inzwischen die am meisten verbreitete aller Ängste in unserer Gesellschaft –die ihnen die Schweißperlen auf die Stirne treibt. Sie sind es, denen wir die Karriere des „Zeitnahen“ zu verdanken haben. Ihnen muss alles zeitnah geschehen weil ihre Furcht, nicht mehr auf dem Laufenden zu sein und so die nächste Smartphone-Gerneration möglicherweise zu versäumen, mit dem Alltagstempo steigt.

Wo’s zeitnah zugeht, macht der hochprozentige Geist des Sofortismus die Leute betrunken. Das ist der Zeitgeist der Dringlichkeitsdynamiker und Zeitdruckmacher, die im Verkehrsstau stehend aus ihrem Porsche Carrera heraus ihren Business-Coach anrufen, um ihm mitzuteilen, dass sie heute leider nicht pünktlich kommen können, aber ganz sicher zeitnah, um das zuvor vereinbarte Zeitfenster gemeinsam zu nutzen. Das tun Klient und Coach dann auch wie angekündigt zeitnah und besprechen beim zur Hälfte geöffneten Zeitfenster das Problem des Klienten, das der mit seiner Ehefrau hat, weil die mal wieder sauer ist, dass der am Abend immer so zeitnah (zu) müde wird.

Kein Zweifel, das Zeitnahgerede passt zum deutschen Nationalcharakter. Bekanntlich unterscheidet sich der Deutsche durch das Talent von seinen Nachbarn, Pünktlichkeit auch dann und dort einzufordern, wo sie gar nicht notwendig wäre. Dafür werden die Deutschen im Ausland ja auch – wie soll man’s sagen? – bewundert, aber nicht so recht beneidet und dabei stets etwas anerkennend belächelt. Spätestens aber seit der Jahrtausendwende vor ein paar Jahren ist Pünktlichkeit nicht mehr sehr gefragt. Wichtiger sind Flexibilität und situationsangemessene Reaktion. In einer Welt, in der nicht die Pünktlichen sondern die Flexiblen Karriere machen, verliert die Tugend der Pünktlichkeit an Anerkennung und Attraktivität. Man organisiert den Alltag durch den Blick auf die Uhr, sondern mit dem erheblich flexibleren Mobiltelefon in der Hand. Doch die Pünktlichkeitsmoral, die einem einstmals in der Schule beigebracht wurde, wird man nicht so schnell los wie eine defekte Billiguhr, die einem das pünktliche Erscheinen über die Jahre garantiert hat. Und so bastelt man sich so etwas wie einen Übergang zwischen Pünktlichkeit und Flexibilität zurecht. Der nun hat einen Namen. Er heißt: „zeitnah.“

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