Das „Moratorium“

Vom Wiederentdecken einer verloren geglaubten Tugend

Die Welt ist doch immer wieder für „Zeit-Überraschungen“ gut: Während 2010 der mittlerweile vertraut klingende Eyjafjallajökull die mobile just-in-time-Gesellschaft zum Stillstand zwang, ist es in diesem Jahr die gewöhnlich atemlos hetzende politische Klasse selbst, die das Stillehalten entdeckt und erste zaghafte Versuche mit dieser Kunst probiert. Da fordern die Grünen im Ländle ein Moratorium in Sachen Stuttgart 21. Erst einmal nur bis zur Landtagswahl, dann doch bis zum Ende des Stresstests und gleich noch bis zur versprochenen Volksbefragung im Herbst. Ein durch Besonnenheit glänzender Winfried Kretschmann: „Die Befürworter des Projekts müssen dringend im Rahmen des Moratoriums mit den kritischen Experten Sachargumente austauschen, anstatt sich weiterhin gegenseitig mit Polemiken einzudecken.“ Und auf der anderen Seite:Das Atommoratorium in Folge der Ereignisse in Japan.

Es sind diese beiden Ereignisse, die das „Moratorium“ zu einer angesehenen und breit beachteten, offiziellen Zeitstrategie im Politikgeschäft gemacht haben. Moratorien waren zwar schon länger bekannt, man kannte sie aber in erster Linie aus der Welt der Wirtschaft, insbesondere aus der Finanzwirtschaft. Moratorien fungieren dort als terminlich eingezäunte „Stillhalteabkommen“ zwischen Schuldnern und Gläubigern. In den meisten Fällen geht es dabei um den Aufschub fälliger Leistungen, speziell um Zinszahlungen. Historisch bekannt war das Hoover-Moratorium von 1931, die Erklärung des amerikanischen Präsidenten, die internationalen Zahlungsverpflichtungen – für Deutschland vor allem die Reparationszahlungen an die Siegermächte des Ersten Weltkrieges – für ein Jahr auszusetzen. Zwar tauchte auch im politischen Diskurs hin und wieder mal ein „Moratorium“ auf, meist jedoch nur im Zusammenhang mit eng begrenzten Fachfragen, wie beim Verbot des kommerziellen Walfangs, dem seit 1986 existierenden „Walfangmoratorium“. Bis vor kurzem aber war die Zeitinstitution „Moratorium“ kein geeignetes und schon gar kein gebräuchliches zeitpolitisches Instrumentarium, das lohnte, ins Arsenal der zeitpolitischen Strategien und Taktiken aufgenommen zu werden.

Nun wäre es jedoch eine Fehlinterpretation, würde man die Entscheidung, mit einem Moratorium auf den Proteste gegen Stuttgart 21 oder auf die Dramatiken in Fukushima zu reagieren, als den Versuch deuten, die Handlungspotentiale des Politikbetriebs um die Zeitstrategie des „Moratoriums“ zu erweitern. Das ist selbstverständlich nicht der Fall. Wie immer im politischen Alltag, ging es auch bei der Moratoriumsentscheidung um die Sicherung der Macht durch den Erhalt der Folgebereitschaft. Zeitpolitisch auffällig und deshalb interessant ist in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache, dass man nicht, wie bisher im politischen Betrieb üblich, durch gesteigerten Aktivismus und hektischen Aktionismus reagiert hat, sondern durch eine Stopp-, eine Abbremsstrategie.

Doch man würde den Regierenden eindeutig zu viel Zeitkompetenz unterstellen, wenn sie, angestoßen durch die lokalen und globalen Erdbeben, zur Einsicht gekommen wären, von nun an etwas langsamer zu machen und in Zukunft abgebremste Zeitformen, zum Beispiel die der Auszeiten, der Pausen, des Abwartens und der Langsamkeit im politischen Alltagsgeschäft zu nutzen. Erheblich wahrscheinlicher ist, dass man sich im Zustand der Aufgeregtheit einer Strategie erinnerte, die der Altmeister der CDU zwar nicht erfunden, aber mehrmals erfolgreich eingesetzt hat, das „Aussitzen.“ Doch es gibt zwischen dem Aussitzen und der Ausrufung eines Moratoriums einen gravierenden Unterschied. Aussitzen, und darin hat es Kohl wahrlich zu einer gewissen „Meisterschaft“ gebracht, ist keine politische Strategie, sondern eine auch im Politikbetrieb anwendbare persönliche Überlebensstrategie. Sie zielt darauf ab, auf dem Wege der Ignoranz, des Liegenlassens, des Wegsehens und der Nichtbehandlung über ein Geschehen, meist eine individuelle Verfehlung, möglichst schnell Gras wachsen zu lassen. So gesehen gehört das Aussitzen, so paradox es klingt, zu den Strategien der Beschleunigung. Beschleunigt werden soll das Vergessen eines Problems, um dieses so zu einem Nicht-Problem zu machen. Anders hingegen die Moratorien in Stuttgart und Berlin: Bei ihnen geht es nicht um persönliche Dinge (Verfehlungen) im Rahmen des politischen Handelns. Stattdessen geht es um die Strategie des politischen Handelns selbst und um die Produktivität von dessen Geschwindigkeit. Kurzum: Das Moratorium sendet die Botschaft aus: Es ist nicht sinnvoll immer und überall im politischen Geschäft aufs Gaspedal zu drücken. Zuweilen ist es besser, sinnvoller und zielführender mit angezogener Handbremse durch Pausen, Innehalten und Abwarten, kurzum, einem Moratorium, zu reagieren.

Zumindest beim Laufzeitmoratorium in Sachen Energiepolitik kann man sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, es handele sich auch um so etwas wie der Griff zur Notbremsung eines energiepolitischen Zuges, der erst kurz zuvor Fahrt aufgenommen hatte. Plötzlich heißt es: „Zurück zum Ausgangsbahnhof, die geplante Reise fällt wegen unvorhergesehener Ereignisse ins (Kühl-)Wasser.“ Nun ist Abschiednehmen angesagt – nicht freiwillig, sondern gezwungenermaßen. Abschiednehmen jedoch braucht Zeit, und zwar mehr Zeit als zum Ein- und Ausschalten eines Lichtschalters nötig ist. Mit Schalter umlegen ist’s war’s also nicht getan. Es musste Zeit zur emotionalen Abkühlung bereitgestellt werden, um danach mit kühlem Kopf über Zeit zu disponieren. Im gegebenen Fall bedeutete das – nicht ganz frei von Ironie – es brauchte Standzeiten um über Laufzeiten (neu) zu entscheiden. Diese Standzeit hat einen Namen: „Moratorium.“

Das „Moratorium“, daran erinnert die lateinische Herkunft des Wortes – morari = verzögern, verweilen, aufhalten – bezeichnet das Bemühen, durch die Errichtung einer befristeten Auszeit in einer Situation der Orientierungslosigkeit erneut Orientierung herzustellen. Es geht um einen sich politisch auszahlenden Zeitverlust, um den paradoxen Versuch, durchs „Zeitverlieren“ Zeit zu „gewinnen.“ Moratorium heißt: Bremsen, um schnell sein zu können.

Den Regierenden ging es bei ihren Moratorien jedoch nicht nur um Abschiedszeit für lieb gewonnener Vorstellungen, Illusionen und Hoffnungen. Es ging ihr auch, und das sicher vor allem, um die Wiederherstellung verloren gegangener Folgebereitschaft. Voraussetzung dafür war eine Art „Entemotionalisierung“ der Bevölkerung. Die nun erhoffte man sich, basierend auf der Erfahrung, dass Zeit vergessen macht, von einer Auszeit, der man marketingmäßig aufgepeppt den Solidität suggerierenden Namen „Moratorium“ verpasste. Deutlicher gesagt: Das Moratorium wurde auch, und vielleicht sogar in erster Linie als ein zeitlich begrenztes Abkühlbecken für die heiß gelaufenen Brennstäbe der öffentlichen Erregung institutionalisiert, quasi als Langfassung jener viel zitierten Nacht, die man bei anderen Gelegenheiten als Kurzzeitmoratorium zu „überschlafen“ empfiehlt.

Willkürlich gegriffen jedoch erschien die Dauer von drei Monaten beim Atommoratorium. Warum nicht fünf Monate, warum nicht zwei? Seitens der Wissenschaft liegen keine Erkenntnisse vor, die die Begründung stützen, drei Monate wäre – vorausgesetzt es stimmt, dass Zeit allein schon klug macht – der ideale Zeitraum, um sinnvoller und problemadäquater entscheiden zu können. Auch existieren nirgends abgesicherte Hinweise, drei Monate sei die ideale Zeitstrecke für das Absenken des öffentlichen Erregungsniveaus. Nun gut, die Erwartung wäre, wie so oft, auch in diesem Fall überzogen, politische Maßnahmen müssten immer klar durchdacht und nach rationalen Kriterien entschieden werden. Wie auch soll eine Entscheidung rational sein, wenn sie getroffen wird, um die Bedingungen überhaupt erst herzustellen, rational entscheiden zu können. Zweifel sind berechtigt, ob das dreimonatige Drücken der Stopptaste geeignet ist – auch nachdem das Moratorium jetzt abgelaufen ist, bleiben die Zweifel weiterhin bestehen.

Aus zeitpolitischer Sicht aber kann man die Innovation „Moratorium“ als eine neue Handlungsoption im politischen Alltagsgeschäft nur begrüßen. Vielleicht führt sie ja dazu, dass die Regierenden endlich damit beginnen, Zeitgestaltung nicht nur als eine individuelle, sondern auch als eine gesellschaftspolitische Aufgabe zu begreifen. Dann könnte das Moratorium auch als eine Botschaft verstanden werden, der in letzter Zeit unter die rasenden Räder geratenen Selbstverständlichkeit wieder Geltung zu verschaffen, dass die Eile mit der Weile einhergehen muss. Ein Lob vom angesehenen ehemaligen Berliner Staatsmann Wilhelm von Humboldt wäre allen Beteiligten für ihre Moratoriumsentscheidungen dann sicher gewesen: „Nicht bloß der einzelne Mensch in seinem Privatleben, auch die ganze Menschheit in ihrem weiten und verwickelten Lauf muss von Zeit zu Zeit still stehen, und sich orientieren.“

P.S.: Allzu nachhaltig war die „Eile mit Weile Strategie“ der Regierung jedoch nicht. Wie kürzlich angekündigt, wird in Berlin derzeit der Entwurf eines „Netzausbaubeschleunigungsgesetzes“ vorbereitet.

Karlheinz A. Geißler – Zeitautor.

Neueste Veröffentlichung: Lob der Pause – warum unproduktive Zeiten ein Gewinn sind. München 2010

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