Die Gegenwart ist flüchtig

Ich begrüße diesen Tage aus einem Herzen voller Liebe.“ (Og Mandino)

Viele Menschen haben sich inzwischen vom vielversprechenden Jenseits abgekoppelt. Zeit und Leben werden zu einem Gegenstand des Diesseits. Dem widerspricht scheinbar, dass das Erleben der Gegenwart immer zu kurz kommt. Wir messen inzwischen in Mikrosekunden, Nanosekunden, Picosekunden, Femtosekunden und gar Attosekunden (10 -18).

Durch die allgemeine Beschleunigung, erleben wir eine Verkürzung der Gegenwart. Und mit zunehmender Beschleunigung werden Erfahrungen immer flüchtiger. Hirnforscher wissen, je flüchtiger ein Eindruck mit Gefühlen besetzt ist, desto rascher geht die Erinnerung daran unter.

Diesen Verlust an Erlebnis- und Genussfähigkeit versucht der moderne Mensch offenbar durch rastloses Anhäufen von Erlebnissen zu kompensieren, ständig ist er in Bewegung, Stillstand ist Rückgang. Der zivilisierte Mensch kennt kaum noch Ruhe, Verschnaufpausen, Zeiten der Muße. „Langeweile“ ist nicht tolerabel. Kurzweilig muss das Leben sein. Und schnell. Alles Lang­same wird auf die rechte Spur geblinkt. Sich Zeit nehmen, kommt Diebstahl gleich. Wer Ruhe hat, weckt den Verdacht, dass er nicht mehr gefragt ist („Ruhestand“).

Wir ver­suchen daher, das Morgen bereits heute zu erleben. Die Versofortigung des Zukünftigen verdichtet das Heute extrem und verändert es in seiner Qualität. Doch die Erlebnisverdichtung führt dazu, dass man faktisch noch weniger erlebt. Zufriedenheit speist sich nämlich aus der erinnernden Rückschau.

Die Gegenwart wird immer schneller zur Vergangenheit. Ja, die Zukunft ist fast schon die Gegenwart. Ein Indikator dafür ist das Warten. Sobald Menschen mehr als 90 Sekunden warten müs­sen, wird ihr Zeitgefühl verzerrt. Die abgelaufene Zeit wird als länger empfunden. Warten wird als verlorene Zeit begriffen. Das Resultat ist eine „Gegenwartsschrumpfung“, in der wir unsere Gegenwart immer schneller zugunsten der Zukunft verabschieden müssen.

Der Versuch, die Gegenwart festzuhalten, ist ein höchst schwieriges Unterfangen. Ist sie doch nur ein extrem kurzer Moment zwischen Vergangenheit und Zukunft.  Der „Augenblick“ ist dagegen schon vergleichsweise lang. Doch ist der Augenblick die einzige Freiheit in der Zeit, die unserer Gestaltungsmöglichkeit unterliegt. Es gibt keine wissenschaftliche Definition, wie lange Gegenwart tatsächlich dauert. Doch es gilt als gesichert, dass der Eindruck des Moments etwa 1,5 bis 3 Sekunden dauert. Solange benötigt das Gehirn, um Informationen wahrzunehmen, kognitiv zu verarbeiten, sich dieses Vorgangs bewusst zu werden und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.

Kinder können übrigens erst ab dem dritten Lebensjahr zwischen früher und später unterscheiden. Faktisch gibt es sie also gar nicht, die Gegenwart, ist sie doch nur die Trennlinie zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ich kann das Leben weder vorholen noch nachholen. Ich habe nur den Augenblick. Und nur da findet das Leben und das Glück statt. Und weil das so ist, versuchen wir, diesen kurzen Moment festzuhalten, zum Beispiel mittels Fotographie: „Mach mal´n Foto!“ (= Halt die Zeit fest!). Der Mensch ist ein Zeitbinder. Er lebt in der Zeit und existiert nur in der Zeit für eine Zeitlang. Deshalb „haben“ wir auch keine Zeit – wir können nur in der Zeit „sein“. Wer ständig versucht, aus der Gegenwart herauszutreten und der Zukunft hinterher zu rennen, dem ergeht es wie dem Hasen und dem Igel.

Es gilt daher, die Wahrnehmung der Gegenwart zu verbessern. Der Tag hat 24 Stunden. Für alle, auch für den Verteidigungsminister. Die Frage ist, wofür wir sie benutzen. Nicht jedes Leben währt 70 Jahre. „Leben jetzt!“ sollte nicht nur das Motto von Künstlern, Philosophen oder Spinnern sein. Niemand hat uns die Zukunft versprochen. Wenn nicht jetzt, wann dann? Das Erreichen des nächsten Tages ist ebenso unsicher wie die Teilhabe an der Zukunft.

Dieser Beitrag wurde unter Philosophie abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.