Tatort “Tante-Emma-Laden”

In meinem Heimatort, der nicht mein Geburtsort ist, soll sich vor vielen Jahren einmal die folgende Geschichte ereignet haben:

Seit den 70er Jahren schossen in meinem Heimatort private Altenheime wie Pilze aus der Erde. Plötzlich hatte jeder dritte Haushalt „alte Leute“. Die Häuser nannten sich „Alten,- Senioren- oder Pflegeheim“. Manche der dort einquartierten Herrschaften waren noch ganz gut beieinander, manche waren allerdings auch geistig oder körperlich behindert. Die eine oder andere Familie, so erinnere ich mich, bekam auf diese Weise einen leibhaftigen „Opa“, der voll in die Familie integriert war und sich fortan viele Jahre um seine „Enkel“, deren Hausaufgaben, den Garten usw. kümmerte – das nenne ich wahre Ergotherapie!

Die Häuser wurden alsbald größer und professioneller. Die Zahl der Patienten wuchs. Das Betreuungsprogramm war allerdings bei weitem noch nicht so umfangreich und professionell wie es heute ist. In Konsequenz waren diejenigen Bewohner, die noch gut zu Fuß waren, häufig im Dorf unterwegs. Und wie man es nicht nur von Patienten mit einer leichten Behinderung oft kennt, waren Nikotin und Alkohol willkommene Mittel gegen die grassierende Langeweile. Beides bekam man in den damals noch vorhandenen Tante-Emma-Läden des Ortes. Die Läden sind seit vielen Jahren geschlossen und deren Besitzer längst verstorben.

Nun hatte – so wird die Geschichte erzählt, deren Wahrheitsgehalt der Verfasser angesichts seiner eigenen Landflucht nie prüfen konnte – eines Tages ein alter Herr aus einem der Altenheime in einem dieser Läden einen „über den Durst getrunken“ – und verstarb in situ.

Was tun? Das Heim, in dem er lebte, wurde informiert. Ein Pfleger kam sofort, konnte aber auch nur de facto feststellen, dass der alte Herr tatsächlich sein Leben ausgehaucht hatte. Damit nun keiner der Beteiligten in Verlegenheit, Verruf oder andere Schwierigkeiten kam, wurde ein Transporter geholt und ein Rollstuhl mitgebracht. Der alte Herr, so geht die Geschichte, wurde in den Rollstuhl gesetzt, zurück ins Heim gebracht und ins Bett verbracht. Am nächsten Morgen wurde er dann friedlich entschlafen in seinem Bette vorgefunden.

So gehen die Geschichten, die das Leben auf dem Lande schreibt. Wenn sie wahr sein sollte, so ist sie längst verjährt. Und wenn sie erfunden sein sollte, so ist sie doch gut erzählt. Honny soit qui mal y pense. Und wo kein Richter ist, ist auch kein Kläger, sagt man auf dem Lande.

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Eine Antwort zu Tatort “Tante-Emma-Laden”

  1. Heike Behnke sagt:

    Der (tote) Altenheimbewohner – damals hieß es definitiv noch nicht „Seniorenresidenz“! – im Rollstuhl: Entweder handelt es sich um eine urbane Legende oder ich weiß, welcher Tante-Emma-Laden unter Verdacht steht (und es war nicht Tante Erna …) Ich habe auch noch ganz genau den Pfleger vor Augen, der den Rollstuhl zurückgeschoben haben soll.

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