Blog oder Blök?

Gefunden in "Karrierebibel" (Jochen Mai)

Seit der Erfindung der Internetseite mit Kommentarfunktion – vulgo „Blog“ – tobt sich dort oftmals eine Herde von Besserwissern und – Verzeihung – Klugscheißern aus.

Für mich ist das die Proletarisierung der Schrift- und Geisteskultur, vergleichbar  mit dem kleinbürgerlichen Pöbel, dem die Nazidiktatur einst eine furchtbare Plattform durch Uniform gegeben hatte – ein Prozess, der sehr feinsinnig beschrieben worden ist von Siegfried Lenz in seiner „Deutschstunde“. Oder vergleichbar der ebenso schrecklichen „Diktatur des Proletariats“ in der ehemaligen DDR.

Weil jeder jeden aus dem“Off“ anonym pöbeln kann, tut er es auch. So ist der Mensch. Glaubt er sich unbeobachtet, ist er zu mancher Schandtat bereit. Viel zu selten, dass jemand im Internet durch Kommentar wirklich einmal Kennerschaft oder Wissen beweist. Feinsinnige, bzw. kenntnisreiche bzw. konstruktive Kommentare sind eher die Ausnahme. Die große Mehrheit blogt, nein, blökt munter drauf los. Ihr Motto: Recht haben oder andere in Unrecht setzen.

Im Laufe von sechs Jahren habe ich einst etwa 600 Rezensionen bei amazon geschrieben (ich studierte einst Literaturwissenschaften). Fast immer erhielt ich haarsträubende Kommentare. Da hat jemand doch im Laufe seines Lebens tatsächlich das vermutlich einzige Buch in seinem Leben gelesen und mäkelt an meiner Rezension  seines Lieblingsautors herum. Ohne jede Kenntnis natürlich. Hauptsache man blökt. Oder irgendein Asterix-Leser meint auf Grund seiner dort erworbenen Lateinkenntnisse meiner Rezensionsüberschrift„Homo homini lupus“ (zu Ferdinand von Schirachs Roman „Schuld“) im Kommentar ein gesperrtes „EST“ hinzufügen zu müssen. Unsinn! Das Kommentieren eines Kommentars ist an sich schon keine Großtat. Und wenn ein solchermaßen funktionierendes Internet „Basisdemokratie“ sein soll, dann gute Nacht!

Es geht doch auch anders. Dankbar war ich zB für den folgenden freundlichen Hinweis meiner Rezension über das Hörbuch „Thomas Mann – Mein Wunschkonzert“. Dort hatte ich einen Titel von Debussy falsch wiedergegeben. Ein Leser schrieb mir:

Lieber Herr Heidtmann,

eine kleine Korrektur sei erlaubt. Das Stück von Debussy widmet sich nicht einem Nachmittag eines Kindes sondern eines Fauns.
Nichts für ungut, phonetisch klingt der Titel ja ähnlich … l’apres midi d’un faune.
Beste Grüße
J. T.

Mit Höflichkeit halten wir einen Sicherheitsabstand ein, mit Unhöflichkeit treten wir dem anderen zu nahe.

Nachtrag: Heute erschien ein ähnlicher Beitrag von Jochen Mai (karrierebibel):

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2 Antworten zu Blog oder Blök?

  1. Celine Steinert sagt:

    Ein handwerklich überaus gelungener Artikel, bei dem Inhalt habe ich mir allerdings die Frage gestellt, wie stark sie tatsächlich hinter diesem im Artikel angeschlagenen Tonfall stehen.
    Analysiert man ihre ein wenig böse wirkende Argumentation- die Kritiker werden schnell mal in die Nähe von Antidemokraten und Faschisten gerückt, womit der Autor im Grunde antidemokratisches Vorgehen anwndet- ergibt sich hier nämlich ein eher unvorteilhaftes Bild- in erster Linie von dem Autor.
    Persönlich finde ich, man müsste hier eine Trennung von einfachen „Meinungs-Foren“ dem das Amazon-Bewertungssystem seine Pupularität verdankt und jenen reinen „Wissenschaftsforen“ vornehmen.
    Sicher sind die Amazonrezessionen zuweilen unerträglich, man muss die Gefahren einer gruppendynamischen Hetzte betrachten- doch auf der anderen Seite steht doch der demokratische Grundgedanke.
    Jede Konsumentenmeinung (wenn denn auch konsumiert wurde, was da sicher oft vorschnell verschäht oder hochlobt wird) hat das gleiche Recht- ganz egal aus welcher Bildungsschicht ihr Schreiber kommt. Genau das ist doch nicht anderes, als Demokratie in in Reinform. Und so lästig uns das zuweilen auch das „Geschreibsel“ der unwissenden Anderen vorkommt- solange es nur eine unsachlich formulierte Meinung ist, sind ernsthafte Forderungen nach mehr Zensur auch gleichzeitig eine Forderung nach mehr Diktatur und weniger Aufklärung.

  2. Karl-Heinz Heidtmann sagt:

    Danke für Ihren Kommentar! Ich stimme Ihnen gerne zu. Aus meinem Beitrag sprechen Frust und polemische Überzeichnung gleichermaßen. Ich habe nichts gegen abweichende Meinungen, solange sie im Interesse an einer Sache stehen. Nur hirnloses Blöken strengt mich an.

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