Der Versuch, die Gegenwart festzuhalten, ist ein höchst schwieriges Unterfangen. Ist sie doch nur ein extrem kurzer Moment zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Faktisch gibt es sie gar nicht, die Gegenwart, ist sie doch nur die Trennlinie zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ich kann das Leben weder vorholen noch nachholen. Ich habe nur den Augenblick. Und nur da findet das Leben statt. In seinem Buch „Zettels Traum“ spricht Arno Schmidt vom „Fotographieren als Protest gegen die Vergänglichkeit“.
Und weil das so ist, versuchen wir, diesen kurzen Moment festzuhalten, zum Beispiel mittels Fotographie: „Mach mal´n Foto!“ (Halt die Zeit fest!). Im verzweifelten Kampf gegen das Verrinnen der Zeit werden immer mehr Fotos gemacht. Nicht zufällig geben Menschen Jahr für Jahr Milliarden aus, um die Gegenwart mittels Foto und Film zu dokumentieren und später als Vergangenheit wieder in die Gegenwart zu transportieren.
8,5 Millionen Digitalkameras wurden allein im Jahre 2009 in Deutschland verkauft. In 88 von 100 Haushalten befindet sich mindestens eine Kamera. Entschied man sich früher schon aus Kosten- und Aufwandsgründen, wann man wovon ein Foto machen wollte, wird heute die Digitalkamera (oder die des Mobiltelefons) gezückt und pausen- und gnadenlos alles abgelichtet – Masse statt Klasse. „Instant“ ist eben ein typischer Trend der Zeit.
Man fotografiert, was man ins künftige Leben hinüberretten will. Weil uns das Gespür für die Gegenwart entgleitet, suchen wir Zuflucht im Vorzeigbaren. Für 1/100 Sekunde halten wir die Gegenwart an. Wir halten etwas im Bilde fest, um uns selbst festzuhalten. Die Kriegsgeneration hat hat ihrer Fotoalben gar aus brennenden Häusern gerettet und mit auf die Flucht genommen. Besonders für die Heimatvertriebenen waren diese als Erinnerung kostbar: Das Fotoalbum dokumentierte die eigene Lebensgeschichte.
Dabei geht das Gefühl für das Jetzt noch weiter verloren. Die inneren Bilder verblassen. Die Gegenwart wird aufs Bild gebannt und der Vergangenheit überantwortet. Alles wird (digital) abgelichtet. Man filmt die Hochzeit, den Geburtstag, Weihnachten und nimmt die Gegenwart selbst gar nicht mehr wahr. Die Kamera vermehrt Vergangenheitsblicke und Zukunftsschau, von der Jetztzeit bleibt kaum noch etwas übrig.
Die Digitaltechnik entspricht dabei ganz dem Trend der Zeit. Ganz im Trend des „Ich-will-alles-und-war-sofort“ wird der Zeitraum überbrückt, der entstand, bis der Film „voll“ war – und die Wartezeit reduziert, bis der Film entwickelt und abgezogen war (in den vergangenen zwanzig Jahren bereits auf ein bis zwei Tage geschrumpft). Leider entfällt damit auch die Vorfreude (ebenfalls ein betagtes Etwas, das vor dem Aussterben steht) und die Überraschung, nach einem halben Jahr plötzlich längst vergessene Momente wiederzusehen.
Bereits Sekunden später lässt sich, was unserem Zeitgefühl nach noch zum Augenblick gehört, als Archivmaterial betrachten. Suchte mal vormals noch den richtigen „Augenblick“, das Motiv, den Ausschnitt, die Perspektive, wird heute alles wahllos aufgenommen, weil preiswert. Dabei wäre weniger wieder einmal mehr.Nur ein wirklich gutes Foto sagt unter Umständen mehr als 1000 Worte.
Auch war das Fotographieren einst ein würdiger Akt. Bedingt auch durch die langen Belichtungszeiten, musste man verharren. Deshalb stehen unsere Vorfahren auch so steif in der Landschaft oder beim Fotographen. Und noch eins hat sich geändert: Blickte man einst ernst in die Kamera, ist heute der ein Griesgram, der nicht breit auf jedem Foto grinst. Vielleicht waren die Zeiten früher einfacher härter?
Und noch eins fällt auf: Blickte man einst durch den kleinen Sucher, hält heute jeder seine Digitalkamera am ausgestreckten Arm vor sich und blickt auf den Farbmonitor hinten.
Bislang bezeugte die Fotographie noch die Wirklichkeit. Der PC macht ihr den Garaus, das Gras grüner, den Himmel blauer, die Oma jünger. Die Bilder lügen, der Mensch erschafft sich nach seinem Bilde. Abbilder werden Vorbilder.
In solchen Visionen verliert sich die Gegenwart. Für sie fehlt zwischen gestern und morgen der Raum. Zudem wird alles zeitlos und ewig, denn die das speicherbare Bild ist keiner Alterung mehr unterworfen. Andererseits sind digitale Bilder ein weitere Teil einer Wegwerfkultur. Fotos werden gemacht, versandt, gelöscht. Sie sind nur für den Augenblick und sollen unser Empfinden für die Gegenwart stärken: Ich bin da, es gibt mich. Dass spätestens alle fünf Jahre das Medium veraltet ist, auf dem die Fotos geb(r)annt wurden stellt noch ein gewisses Problem dar. Da ist das sephiabraune Papierfoto langlebiger.
„Erinnerungen verschönern das Leben, aber das Vergessen allein macht es erträglich.“ (Honoré de Balzac, 1799 – 1850)