Vorsorge Dich nicht – lebe!

Unter diesem Titel schreibt Werner Bartens einen höchst erhellenden bis amüsanten Beitrag in der SZ vom 19./20. Dezember 2010, den ich allerdings nur auf der Homepage eines Allgemeinmediziners online wiederfinden konnte.

Hier einige Auszüge:

„Zur Vorsorge gegangen. Trennkost gegessen. Beim Arzt zum Durchchecken
vorbeigeschaut. Feldenkrais-Kurs gebucht. Wellness-Wochenende arrangiert. Das Atem-
Seminar nachbereitet. Die Fasten-Kur vorbereitet. Laborwerte überprüft. Heilerde gekauft, dabei Osteopathie-Buch an der Kasse mitgenommen. Haus gegen Elektrosmog
abgeschirmt. Nach dem Fitness-Studio auf dem Wochenmarkt. Endlich wieder etwas für die Blutreinigung getan. Entschlackungstee getrunken. Darmsanierung beendet. Den Body-Mass-Index berechnet und dann mit der Ehefrau lange über Diät-Pläne geredet.

Das Leben kann so anstrengend sein, besonders das gesunde Leben.

(…)

Die Menschen, zumindest die in den wohlhabenden Ländern, waren noch nie so gesund wie heute. Eigentlich. Denn zugleich haben sich noch nie so viele Menschen krank, ausgelaugt und überfordert gefühlt.
(…)

Viel zu viele Menschen fühlen sich unwohl in ihrer Haut. Nun ist Homo sapiens zwar das einzige Lebewesen, das sich freiwillig Schlaf entzieht, den Tag-Nacht-Rhythmus missachtet, sich mit Reizen überfordert und Kleidung anzieht, die drückt oder Ekzeme blühen lässt. Dasgeht nicht spurlos an den Leuten vorbei, manche Menschen sehen tatsächlich chronisch überarbeitet und übersehen aus. Doch wer mit dem falschen Partner lebt, im Beruf kreuzunglücklich ist und vor Angst kaum geradeaus laufen kann, dem hilft letztlich weder Sanddorn-Saft noch Kieser-Training und auch nicht die große Darmreinigung.

Fast die Hälfte der Menschen, die zum Arzt gehen, leidet an funktionellen Störungen. Oder an idiopathischen Erkrankungen. Oder an essentiellen Symptomen. Alle diese Begriffe bedeuten: Wir wissen auch nicht, woher es kommt. Das Herz stolpert, der Kopf schwirrt, der Magen drückt und dieser Ganzkörperschmerz! Die Menschen haben zweifellos Symptome. Sie leiden, aber ein organischer Grund ist nicht zu finden. Mediziner wissen, dass sich Seelennot oft körperlich ausdrückt. Doch nur wenige Ärzte entwirren das Geflecht aus miesen Beziehungen und frustrierendem Alltag. Sechs Jahre dauert es im Mittel, bis Patienten in der Psychosomatik oder bei anderen
verständigen Ärzten die Hilfe finden, die sie brauchen.

Vorher haben sie viele Untersuchungen überlebt. Ihre Organe sind vermessen und
ausgeleuchtet. Immer wird etwas gefunden. Es gibt keine Gesunden, nur Menschen, die
nicht gründlich genug untersucht worden sind. Dieses Motto ist nicht zynisch, sondern ein Grundpfeiler unseres Gesundheitswesens. Das Motto kennt jeder Arzt, mancher macht es zu seiner Geschäftsidee.
(…)

Dabei ist Gesundheit wie die Liebe und das Glück ein Zustand der
Selbstvergessenheit. Wird er ständig hinterfragt, ist er weg. Entspannend ist das nicht. Anders gesagt: Wer permanent vorbeugt, kann sich nie zurücklehnen.
(…)

Acht Jahre Lebenszeit können durch regelmäßiges maßvolles Laufen, Schwimmen oder Radfahren gewonnen werden. Man sollte den Sport allerdings mögen, denn die zusätzliche Lebenszeit geht für das Training drauf.

Nicht jeder kann Risiken nüchtern abwägen wie Niklas Luhmann. „Man jagt sich Tag für Tag durch den Wald, um gesund zu bleiben, und stürzt schließlich mit dem Flugzeug ab“, schrieb der Soziologe in seiner „Soziologie des Risikos“.

Es geht gar nicht um nüchterne Abwägung, sondern um Glauben. Die Kirchen sind leer, die Wartezimmer voll. Längst ist Arbeit am Wohlbefinden zum Religionsersatz geworden. Unklar ist, ob Fitness-Center oder Ambulanzen als Kathedralen der Moderne dienen. Crosstrainer, Blutgruppen-Diät und Power-Fasten sind auf jeden Fall geeignete Trimm-dich-Stationen auf dem Vorsorge-Parcours zwischen Himmel und Hölle.

Auch das Körpergewicht wird als Fetisch verehrt. Mit Rationalität hat das nichts zu tun. Dabei ist die Botschaft von Ärzten in den letzten Jahren eindeutig: Menschen mit leichtem bis mittlerem Übergewicht leben länger und werden seltener krank als dürre Zeitgenossen. Leichtes Übergewicht ist medizinisch ideal.
(…)

Es gibt, außer in der Erzverhüttung, keine Schlacken – niemand hat sie je gesehen.
(…)

Auch das Gerede von der Übersäuerung ist Quatsch. Unsere Zellen und Organe schnurren bei konstantem pH-Wert vor sich hin. Da muss nichts basisch abgepuffert werden. Einzig die Beutelschneiderei kann einen sauer machen.
(…)

Was hilft? Jedenfalls nicht Regalmeter Ratgeberliteratur. Sondern genug Schlaf und
Ruhepausen, erfreuliche Beziehungen und ein Job, der zufrieden macht. Bewegung nach
Lust und Laune. Und immer alles durcheinander essen. Das ist wahrscheinlich zu bekannt und zu banal, sodass jeder selbst ernannte „Mister Gesundheit“ neuen Rat anbieten kann.

Diät ist immer gut, chronisch erschöpft sind wir alle. Und wer fühlte sich nicht irgendwie metabolisch gestört?

Gesunden hat es in Studien nie genutzt, Vitaminpräparate einzunehmen. Wir sind mit Vitaminen und Mineralien so überversorgt, dass Ärzte schon Hypervitaminosen beschreiben – Leiden an der Überdosis.
(…)

Hartnäckig hält sich die Mär, dass Lebensmittel immer weniger Nährstoffe und Vitamine
enthielten. Das ist schlicht erfunden.
(…)

Immerhin bleibt die gute Botschaft: Wer sein Wohlbefinden zu verbessern versucht, lebt zwar nicht länger, stirbt aber gesünder.“

Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.293, Samstag, den 19. Dezember 2009 , Seite 59

Dieser Beitrag wurde unter Feuilleton abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.