Fragebogen – Max Frisch

Hier ein weiterer besinnlicher Beitrag zu den heute Abend vermutlich millionenfach versuchten Vorsätzen für das Neue Jahr. Er stammt aus der Feder des schweizer Autors Max Frisch (1911 – 1991). In seinen Tagebüchern hat er elf Fragebögen veröffentlicht, die auch als separate Publikation vorliegen und helfen können, sich seiner eigenen Einstellungen bewusst zu werden.

Die elf Fragebögen mit jeweils ca. 25 Fragen haben elf unterschiedliche Themen zum Inhalt: Erhaltung des Menschengeschlechts, Ehe, Frauen, Hoffnung, Humor, Geld, Freundschaft, Vatersein, Heimat, Eigentum und Tod.

Viele Fragen sind suggestiver oder rhetorischer Natur, fast alle provokativ. Der Versuch, die Fragen zu beantworten, wirft meist meist mehr Fragen auf, als er die Dinge klärt. Und das ist vermutlich auch wohl so gewollt. Es gibt mithin kein Richtig oder Falsch, auch keine Auswertung.

Hier der Fragebogen I: Erhaltung des Menschengeschlechts

1. Sind Sie sicher, daß Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?

2. Warum? Stichworte genügen.

3. Wieviele Kinder von Ihnen sind nicht zur Welt gekommen durch Ihren Willen?

4. Wem wären Sie lieber nie begegnet?

5. Wissen Sie sich einer Person gegenüber, die nicht davon zu wissen braucht, Ihrerseits im Unrecht und hassen Sie eher sich selbst oder die Person dafür?

6. Möchten Sie das absolute Gedächtnis?

7. Wie heißt der Politiker, dessen Tod durch Krankheit, Verkehrsunfall usw. Sie mit Hoffnung erfüllen könnte? Oder halten Sie keinen für unersetzbar?

8. Wen, der tot ist, möchten Sie wiedersehen?

9. Wen hingegen nicht?

10. Hätten Sie lieber einer anderen Nation (Kultur) angehört und welcher?

11. Wie alt möchten Sie werden?

12. Wenn Sie Macht hätten zu befehlen, was Ihnen heute richtig scheint, würden Sie es befehlen, gegen den Widerspruch der Mehrheit? Ja oder Nein.

13. Warum nicht, wenn es Ihnen richtig scheint?

14. Hassen Sie leichter ein Kollektiv oder eine bestimmte Person und hassen Sie lieber allein oder im Kollektiv?

15. Wann haben Sie aufgehört zu meinen, daß Sie klüger werden oder meinen Sie’s noch? Angabe des Alters.

16. Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik?

17. Was, meinen Sie, nimmt man Ihnen übel und was nehmen Sie selbst übel, und wenn es nicht dieselbe Sache ist: wofür bitten Sie eher um Verzeihung?

18. Wenn Sie sich beiläufig vorstellen, Sie wären nicht geboren worden: beunruhigt Sie diese Vorstellung?

19. Wenn Sie an Verstorbene denken: wünschten Sie, daß der Verstorbenen zu Ihnen spricht, oder möchten Sie lieber dem Verstorbenen noch etwas sagen?

20. Lieben Sie jemand?

21. Und woraus schließen Sie das?

22. Gesetzt den Fall, Sie haben nie einen Menschen umgebracht, wir erklären Sie es sich, daß es dazu nie gekommen ist?

23. Was fehlt Ihnen zum Glück?

24. Wofür sind Sie dankbar?

25. Möchten Sie lieber gestorben sein oder noch eine Zeit leben als gesundes Tier? Und als welches?

Max Frisch, 1966

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