Welche Wahl lässt uns die Krise?

Soeben habe ich meinen Beitrag für den Zeit-Wettbewerb „Politischer Essay“ abgeschickt. Bedingung war, dass der Beitrag noch nicht veröffentlicht war (das tue ich erst jetzt) und nicht länger als 7500 Zeichen sein durfte.

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Welche Wahl lässt uns die Krise?

Seit kurzem geht ein Gespenst um in der Welt, das Gespenst der Krise.

Einst waren Veränderungen in langen Abständen auftauchende Einschnitte, denen lange, oft Jahrhunderte andauernde Perioden der Stabilität und Kontinuität folgten. So kam nach der Erfindung des Rades oder des Hebels lange Zeit nicht viel Neues nach. Seit dem 19. Jahrhundert hingegen erleben wir eine atemberaubende Innovationsgeschwindigkeit – Petroleumlampe, Dampfmaschine, Eisenbahn, Elektrizität, Dieselmotor, Flugzeug, Röntgenapparat, Pharmazie, Atomenergie, EDV, Informationstechnologie usw..

Inzwischen wissen wir auch – nicht erst seit den Ausführungen von Marx und Engels Mitte des 19. Jahrhunderts -, dass Wirtschaftsprozesse zyklisch verlaufen. Die Krise (aus dem Altgriechischen krínein, „trennen“, „(unter-) scheiden“, heute gebraucht für „entscheidende Wendung“) ist mithin fester Bestandteil unseres Wirtschaftssystems.

Der russische Wirtschaftswissenschaftler Kondratieff hat im Jahre 1926 nachge­wiesen, dass es parallel zu den eher kurzfrequenten Auf- und Abschwüngen auch langfristige Wirtschaftszyklen gibt, deren Amplituden mit technischen Neuerungen korrelieren. Nach Kondratieff befinden wir uns jetzt am unteren Ausschlag des sogenannten 5. Kondratieff (der Informations- und Kommunikationstechnik) und am Anfang des 6. Kondratieff (dessen Themen Biotechnologie, Nanotechnologie und regenerative Energien sein könnten).

So wie die Wirtschaftszyklen in immer kürzeren Abständen erfolgen, wird auch die Dauer eines Kondratieffzyklus immer kürzer – auch dies ward bereits im Zusammenhang mit der Diskussion des abnehmenden Ertragszuwachses von den Wirtschaftstheoretikern des 19. Jahrhunderts beschrieben. Am Ende stände dann klinisch gesehen wohl das „Kammerflimmern“, der Zusammenbruch. Denn dass sich unser heutiges Wirtschaftssystem einmal verabschieden wird, ist gewiss, nur weiß niemand – selbst Marx und Engels waren klug genug, keine präzisen zeitlichen Voraussagen zu treffen – wann.

Die modernen Wirtschaftsführer ahnen diesen nahenden Tag offenbar schon lange. Immer kurzfristiger sind ihre Investitionen. Kaum noch jemand in den Konzernspitzen plant mit Zeithorizonten von 20 oder 30 Jahren. Schon die schrödersche „Agenda 2010“ erschien im Jahre 2003 manchen als utopisch weit weg.

Doch Krisen gehorchen nicht nur Wirtschaftszyklen, sie sind zum Teil auch hausgemacht und lassen sich oft auf überkommene innere Strukturen und Denkweisen zurückführen. Nicht zufällig haben etwa 700.000 mittelständische Unternehmen Nachfolgeprobleme.
Auch sind Krisen nicht nur unvermeidbar, sondern oftmals auch notwendig, geben sie doch die Gelegenheit, lang aufgeschobene, längst fällige Veränderungen in Angriff zu nehmen und sich neu aufzustellen, Kosten zu reduzieren oder neue Märkte strategisch anzugehen.
In jeder Krise ist daher zu prüfen, wo man am Alten hängt, um hernach Dinge loszulassen, damit Besseres nachkommen kann. Jede Krise trägt ein Stück weiter in eine bessere Zukunft. Ohne Krise gäbe es keinen Grund, etwas zu verändern. „Alle Veränderung resultiert aus Leid.“ (Goethe). Denn in jeder Krise verbirgt sich immer auch die Chance für etwas Neues: Der dunkle Moment, in dem für die Raupe das Ende gekommen ist, ist derselbe, in dem der Schmetterling zum ersten Mal das Sonnenlicht erblickt.

Kern der aktuellen Krise ist der Mensch, so viel steht fest, in seiner unersättlichen Gier. Genug ist nie genug. Immer mehr, immer höher, immer weiter. Cui bono? Für circa ein Sechstel der Weltbevölkerung – alle anderen leben am Rande des Existenzminimums, haben weder sauberes Wasser noch genug zu essen, geschweige denn eine Sozialversicherung.

Wir verkennen gerne, dass das Eine zwingend vom Anderen abhängt: Wir sind so reich, weil die anderen so arm sind. Eine mögliche Konsequenz will niemand gerne hören, hat sie doch den haut goût der Gleichmacherei. Nur, wenn der Reichtum gleichmäßiger verteilt wäre, hätten die ärmeren Länder eine Chance – und nach­gewiesen weniger Nachkommen, die Bevölkerungsexplosion wäre gestoppt.
Weil die Verantwortung nicht irrational und nicht einfach delegierbar ist, können wir alle uns nicht der Verantwortung entziehen: Wir alle haben vom prallen Leben profitiert. Dabei dürfen wir nicht auf die Brandstifter und Koofmichs warten, denn „Der Teufel hat sie ’s zwar gelehrt; Allein der Teufel kann ’s nicht machen.“ (Faust)
Doch wer gibt schon gerne ab? Der Einzelne verteidigt sein Hab und Gut genauso wie die Staaten einander nichts gönnen. Und wie sehr sich die Interessen von Unternehmen und Verbänden in die Politik eingenistet haben, sieht man in der aktuellen „Wirtschafts- und Finanzkrise“. Doch gerade die, die das aktuelle Debakel angerichtet haben, machen sich daran, es wieder zu richten.
So wie einst die Händler aus dem Tempel vertrieben wurden, wird es Zeit, unsere Zukunft nicht länger auf dem Altar des Mammons zu opfern. Der Tanz um das Goldene Kalb muss beendet werden. Wir müssen uns wieder auf tradierte Tugenden konzentrieren. Wir haben dem Haben zu viel Bedeutung beigemessen. Es wird Zeit zu sein, sich von der Haben­seite auf die Seinseite zu begeben. Denn wir Menschen sind nur in der Zeit.

Ökologisch, nachhaltig und human müssen die zentralen Parameter einer neuen Weltordnung lauten. Dass weniger mehr sein kann, ist keine Sentenz. Die wichtigen Dinge im Leben kosten nichts oder nur wenig, sind nicht börsennotierbar.
„Die Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“, schrieb Max Frisch vor 40 Jahren. Heute wissen wir, dass die Lage bedrohlicher ist, als wir es wahrhaben oder Insider zugeben möchten. Wir sägen sprichwörtlich an dem eigenen Ast, auf dem wir alle sitzen.

Doch wenn wir es wollen, kann diese Krise der Anfang von etwas ganz Neuem sein. Das Bessere ist stets der Feind des Guten. Die Semantik von Freiheit und Demokratie muss neu definiert werden. Nur ein Paradigmenwechsel kann helfen. Was nehmen wir aus dem alten System mit, was braucht es an Neuem? Nicht das Wohl von wenigen darf dabei den Ausschlag geben. Nicht die Verantwortung des Einzelnen darf an den Staat delegiert werden. Unsere Gesellschaft ist eine freiheitliche. Nichts kann uns also daran hindern, frei zu entscheiden, wie wir in Zukunft wirtschaften, gestalten und leben wollen.

Die Konstruktivisten behaupten, die Welt entstehe erst durch unsere Wahrnehmung, wir machten uns unsere Welt selbst. Nie war das so wahr wie heute. Eigentlich wäre alles „ganz einfach“, denn der Mensch ist vernunftbegabt – und die notwendigen Technologien stehen zur Ver­fügung. Dass Ökologie und Ökonomie dabei durchaus zusammengehen können, wird immer deutlicher. So gesehen steht die aktuelle Wirt­schaftskrise durchaus im Zusammenhang mit der globalen Klimakrise.

Nach der Krise ist vor der Krise. Es wird höchste Zeit, anders zu wirtschaften. Noch sind wir frei in unserem Handeln. Die Anzahl der Wahlmöglichkeiten nimmt jedoch in dem Maße ab, wie wir weitermachen wie bisher. Technologie, Arbeitskraft und Geld stehen zur Verfügung. Wer oder was sollte uns also hindern? Als Lohn winkt viel. Nur wer nicht handelt, wird behandelt. Es steht viel auf dem Spiel – für uns alle.

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